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Individuelle Musikausbildung in der Ganztagesschule

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Podiumsdiskussion im Rahmen des 12. Landeskongresses Musik in Baden-Württemberg
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Ist Ganztagesschule schon eine runde Sache in Baden-Württemberg? So eröffnet nmz-Chefredakteur Andreas Kolb eine Podiumsdiskussion beim 12. Landeskongress der Musikpädagogik in Baden-Württemberg zum Thema „Individuelle Musikausbildung als Motor ganzheitlicher Schulpädagogik im Kontext von GTS und G8“.

Wir hoffen es! So die Antwort von Hans-Martin Werner, Musikreferent im Kultusministerium Baden-Württemberg, der aber einräumt, es sei zunächst noch „ein Schreckgespenst für all diejenigen, die um Zeitfenster bangen“. Und so ist man mitten im Thema, zu dem neben ihm als Mitdiskutanten Tilman Heiland (Vorsitz des VDS Baden-Württemberg), Jutta Palzhoff (Vors. des Landesmusikschulbeirats), Martin Gunkel (Leiter der Städt. Jugendmusikschule Göppingen), Romuald Noll (Klavierpädagoge an der Musikschule Stuttgart, Regionalvorsitz Esslingen des DTKV) und Prof. Walter Rehorska (Präsident der AGMÖ) auf dem Podium Platz genommen hatten.
„Durch das G8 haben wir de facto schon Ganztagesschule. Das merken wir bereits in der Mittelstufe“, führt Schulmusiker Heiland aus. „Schulinternes Musikleben und AGs brechen weg.“ Eine Kollegin aus dem Publikum ergänzt: „Ab Klasse 10 bricht alles weg! Kein Vereinsleben, keine sozialen Anbindungen mehr.“

Sie fordert, Freiräume hierzu institutionell zuzulassen. Musikschulleiter Martin Gunkel schildert, wie durch immer früher beginnenden Instrumentalunterricht die Bindung des Kindes an Instrument und Musikschule gestärkt werden kann. Kooperationen mit allen Kindergärten und Schulen seien selbstverständlich, aber immer mit qualitätstragendem Angebot, da beiderseits gewünscht sei, dass die Kinder später in Ensembles auch gut spielen, was nicht durch Klassenunterricht und Crashkurse erreicht würde.

Über die gesamtgesellschaftliche Bedeutung individueller musikalischer Erziehung und die Notwendigkeit, hierfür Freiräume im Schulkontext zu schaffen, auch um den Schulen musikalische Leistungsträger zu erhalten, herrscht im Plenum Einigkeit. Dass zur Schaffung solcher Freiräume rechtliche Hürden zu nehmen sind, war schon im Vorfeld des Kongresses bei Sondierungsgesprächen im Stuttgarter Ministerium klar. Prof. Rehorska macht anhand österreichischer Verhältnisse deutlich, was gelingen kann, wenn Bildungsreformen durch neue Gesetze ermöglicht anstatt durch bestehende verhindert werden. Per Dienstrecht sind Schulmusiker und Instrumental- beziehungsweise Vokalpädagogen unter der Gesamtfachaufsicht des Staates auf eine Stufe gestellt, wodurch auch die außerschulisch erworbene Bildungsleistung in Stundentafel und Schulnote eingeht.

Eine mögliche praktische Umsetzung für Baden-Württemberg wird anhand eines vom Landesmusikschulbeirat in Zusammenarbeit mit dem DTKV entwickelten Modellkonzeptes erörtert, das instrumentale und vokale Leistungen der Kinder in die Mitte des Schullebens stellen will, vergleichbar dem jetzt schon in der Oberstufe praktizierten Musikprofil. Wer einen solchen Musikzug wähle, so Romuald Noll, erhalte rechtlich abgesichert Freiräume für eigenes Üben und den Besuch des Instrumentalunterrichts, der ja meist außerhalb der Schule stattfinde. Tragende Säulen wären ein gestärk­ter Schulmusikunterricht und ein außerschulischer individueller, hochqualifizierter Instrumental- beziehungsweise Vokalunterricht. Das System aus Modulen mit der Grundeinheit einer Schulwochenstunde über ein Quartal ermögliche dann eine den Gegebenheiten vor Ort und dem Leistungsniveau des Kindes entsprechende passgenaue Ergänzung durch Wahlfächer wie zusätzlichen Theorie-, Rhythmik- oder Ensembleunterricht. Schüler verschiedener Klassenstufen können so in derselben Schule oder an einer Musikschule gemeinsamen Projektunterricht als Bestandteil eines individuellen und gesicherten Stundenplanes absolvieren.

Das Modell lasse sich in allen Schultypen und Altersstufen umsetzen, von Grundschule bis Gymnasium, ermögliche auch die in Gemeinschaftsschulen notwendige Individualisierung und könne sogar zur Inklusion sinnvoll sein. Durch Verzicht auf eine 3. Fremdsprache oder NWT könne jeder Schüler an jeder beliebigen Schule ab der 8.Klasse die musikalische Ausbildung nochmals intensivieren, aber auch ein Ausstieg aus dem Musikprofil bleibe möglich.

Wichtig sei die Erkenntnis, so Werner, dass es sich bei Schule und Musikschule um völlig unterschiedliche Systeme handele und für ein instrumentales/vokales Schulfach niemals der Pflichtunterricht, sondern höchstens der Ergänzungs- bzw. Betreuungsbereich zur Disposition stünde. Die bisher außerschulisch erworbene Bildungsleistung, die ja immer schon Voraussetzung für eine Fachpraktische Abiturprüfung oder die Mitwirkung im Schulorchester war, zum schulischen Wahlpflichtfach zu machen, ist jedoch erklärtes Ziel des vorgestellten Konzeptes.

Falls das nicht gelinge, warnt Noll, drifte die de facto schon bestehende Zwei-Klassen-Bildungsgesellschaft noch weiter auseinander. Indem man Musikkultur in die Schule hineinhole, würden gerade bildungsfernen Kreisen neue Horizonte eröffnet und damit das verwirklicht, was Ganztagesschule im Kern erreichen wolle. Lösbare formale Probleme wie Lernmittelfreiheit sollten nicht gegen ein visionäres Konzept, welches europaweite Ausstrahlung erlangen könne, aufgewogen werden. Mit Blick auf die hier angesprochene Chancengleichheit fragt Kolb nach der Finanzierung. Dem Grundsatz kostenloser Schule stehen schon immer außerschulisch erworbene Bildungsleistungen gegenüber, die teilweise oder voll durch Elternbeiträge finanziert werden. Aber auch im schulischen Umfeld werden Elternbeiträge zur Finanzierung von Betreuungsangeboten herangezogen. Eltern engagieren sich heute hier wie da, meint Jutta Palzhoff. Bestehende Geldflüsse umlenken, guten Willen zeigen, so ihr Appell, dann werden sich da auch Lösungen finden! Gunkel verweist darauf, dass bestehende Beitragsmodelle schon heute allen die Teilhabe finanziell ermöglichen: „Kein Kind darf aus finanziellen Gründen ausgeschlossen werden.“

Den Einwand Notengebung sei Schulhoheit, entkräftet Noll, da die bisher im Profilfach Musik geübte Notengebungspraxis der Schulen für Instrumentalpädagogen noch nie ein Problem war und sich diese Frage deshalb gar nicht stelle.

Bei der Frage, ob ein Schulfach Instrumentalspiel überhaupt außerhalb der Schule wahrgenommen werden könne, verweist Heiland auf die vielen Schulklassen, die im Rahmen des Sportunterrichts immer schon den Weg zwischen Schule und Hallenbad unbeaufsichtigt zurücklegen. Wo gewollt, werden auch Lösungen gefunden, meint Jutta Palzhoff und appelliert an alle, sich nicht am geltenden Recht im Kreise zu drehen. „Wir müssen weiterkommen, die Zeit ist reif Kultur in der Schule aufzuwerten.“ Werner merkt an, das Modulsystem könne aufgrund seiner hohen Flexibilität zur Konkurrenz der Gymnasien mit Musikprofil werden. Für Noll ist dies längst überfällig, da viele musikalisch interessierte oder gar hochbegabte Kinder diese Gymnasien ohne massiven Zeitverlust gar nicht erreichen können.

Werner fügt an, in Abstimmung mit dem Musikschulverband die Spitze durch Klassenmusizieren aus der Breite herausentwickeln zu wollen. Palzhoff, Noll und Gunkel betonen, dass im Alter der Grundschule durch qualitativ hochstehenden Einzelunterricht, durchaus ergänzt durch verpflichtendes Instrumentenkarussell, die Grundlagen für das erfolgreiche Musizieren gelegt würden. Das bestehende kleine Zeitfenster der kreativen Freiräume noch durch Klassenmusizieren zuzustellen, wäre kontraproduktiv.

Als Vertreter des Ministeriums plädiert Werner vorsichtig für individuelle Lösungen, die ohne rechtliche Regelungen wachsen sollen. Ein Modulmodell passe gut zu den Plänen für die GTS. „Die Schulen sollen wissen, dass ein Grundkonsens besteht. Die Sorge, dass gutlaufende Angebote durch die Ganztagesschule verdrängt werden, ist unbegründet.“ Individuelle Förderung müsse durch politische Öffnungen möglich werden.

Uta Haffner (stellvertretende Vorsitzende des Landesmusikschulbeirats), Ekkehard Hessenbruch (DTKV-Vizepräsident)

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