„Man sang nur, nach dem Gehör, das theoretische Verständnis war von magerster Sorte, und die Art des Unterrichts so unpädagogisch wie möglich.“ Mit diesen Worten fasste der englische Musikpädagoge John Hullah die Eindrücke seiner Inspektion deutscher Elementarschulen im Jahre 1879 zusammen.
Bis heute aber zeigen sich die Bildungspolitiker wenig von dieser Schelte gegen das Land der Musik beeindruckt, so dass Mechthild Fuchs in ihrer Musikdidaktik resümieren muss: „Qualifizierter Musikunterricht ist die Ausnahme, nicht die Regel; überwiegend wird das Fach fachfremd oder gar nicht unterrichtet“, um dann hinter der vorgehaltenen Hand einer Fußnote zu ergänzen: „Die in der einschlägigen Literatur häufig angegebene Quote von 80% [fachfremd erteilten Musikunterrichts] erscheint durchaus realistisch, ist aber statistisch nicht nachgewiesen.“ Den empirischen Nachweis, dass wir uns im Land der Musik zu wenig um den Musikunterricht bemühen und dass dieser Mangel auf komplexen strukturellen Ursachen beruht, hat nun eine von den Landesmusikräten, dem Deutschen Musikrat und der Bertelsmannstiftung initiierte Studie erbracht.
Die Tatsache, dass wir heute überhaupt von Musikunterricht sprechen können, ist nicht zuletzt der demokratischen Neuordnung unseres Bildungswesens zu Beginn der 1920er-Jahre zu verdanken. Zuvor hatte Musik in der Schule als Singunterricht stattgefunden: Erst der sozialdemokratische Bildungsreferent Leo Kestenberg forderte 1922, dass neben dem Singen, die Musikalität zu fördern und das Verständnis für Musik systematisch zu entwickeln sei. Zu den Aufgaben des Musikunterrichts gehöre die „Weckung des Schöpferischen“, das „musikalische Erleben und Gestalten“, zu dem sich dann das „Begreifen“ und die „Reflexion“ gesellten. Damit wurde vor nunmehr 100 Jahren die Grundlage eines praktisch-kulturerschließenden Musikunterrichts gelegt wie er auch heute – so er stattfindet – praktiziert wird. Diese gestiegenen Anforderungen führten unweigerlich zu einer Akademisierung der Volksschullehrerbildung: Als Vorläufer der Pädagogischen Hochschulen und Universitäten wurden Pädagogische Akademien gegründet, die nun das Abitur und eine künstlerische Eignung voraussetzen.
In den 1970er-Jahren verdichtete sich dann das Wissen um das kindliche Musiklernen, die Entdeckung der Neuroplastizität des Gehirns – die Vorstellung, dass es sich hier nicht um ein fertiges , sondern ein sich entwickelndes Organ handelt – hatte nachhaltige pädagogische Folgen: Vorstellungen einer ausschließlich angeborenen musikalischen Begabung waren obsolet geworden und es wurde deutlich, dass es entscheidend auf die Entwicklung der musikalischen Potentiale in den ersten zehn Lebensjahren ankomme und einer qualifizierten musikalischen Förderung bedürfe.
Erste bundesweite Studie zum Musikunterricht in der Grundschule
Dass all dieses Wissen um die entscheidende Bedeutung des Musikunterrichts für die gesamte Bildungsbiographie am flächendeckenden Mangel von qualifiziertem Fachpersonal scheitern soll, ist tragisch aber vermeidbar, wie die von Deutschem Musikrat, der Konferenz der Landesmusikräte sowie der Bertelsmann Stiftung gemeinsam beauftragte bundesweite Studie „Zum Musikunterricht in der Grundschule“ aufzeigt. Auf der Basis einer ersten systematischen und bundesweiten Erhebung – für Bayern und das Saarland lagen keine Daten vor – werden die landesspezifischen Besonderheiten herausgearbeitet und anschließend in vier übergreifenden Handlungsfeldern für eine zu gründende „Taskforce für musikalische Bildung“ gebündelt. Der Studie zufolge unterrichten bundesweit 17.290 ausgebildete Musiklehrkräfte in der Grundschule. Um aber den verbindlichen Unterricht auch zukünftig abdecken zu können, bedarf es 40.437 Musiklehrkräfte – und damit fehlen mehr als 23.000 Lehrerinnen und Lehrer! Weiterhin auffällig ist, dass lediglich 42,8 Prozent der erteilten Musikstunden von ausgebildeten Fachkräften abgedeckt werden, der Anteil fachfremd erteilten Unterrichts variiert zwischen 11,4 Prozent und 72,5 Prozent. Zur Beseitigung dieses Mangels „müssten im kommenden Jahrzehnt mindestens 4 von 10 Neueinstellungen in der Grundschule über eine Lehrbefähigung im Fach Musik verfügen“, so resümieren die Autoren unter Leitung von Andreas Lehmann-Wermser und identifizieren sogleich vier vordringliche Handlungsfelder, die im Folgenden näher ausgeführt werden sollen.
Was nun zu tun ist: Konkrete Veränderungen in vier Bereichen
1. Zur Situation in den Hochschulen und Universitäten: Insbesondere in den Universitäten und Musikhochschulen muss ein Umdenkprozess stattfinden, der Professionalisierung nicht ausschließlich in der Ausbildung des wissenschaftlichen beziehungsweise künstlerischen Spitzenpersonals versteht, sondern seiner gesellschaftlichen Verantwortung insgesamt nachkommt, indem er die Lehrerbildung zu seinem Anliegen macht. Künstlerische, wissenschaftliche und fachdidaktische Inhalte müssen in Lehrveranstaltungen zusammenfließen. Hierzu bedarf es Dozenten mit einem entsprechenden Professionsverständnis, die solch pädagogische Perspektiven nicht als defizitär, sondern als bereichernd wahrnehmen. Dies beginnt bereits bei den Zugangsvoraussetzungen (Eignungsprüfungen mit stärkerer Gewichtung pädagogischer Anteile) und endet in den Formaten der Abschlussprüfungen mit ihrem eigenen, musikpädagogischen Exzellenzanspruch. Und es erscheint in einem Mangelfach auch nicht sinnvoll zu sein, den Zugang durch einen Numerus Clausus in den Nebenfächern (Bildungswissenschaft / Zweitfach) zu reglementieren: ein Abischnitt von 1,2 für ein Grundschulstudium?
2. Zu den Rahmenbedingungen im System Schule: Dem Musiklehrkräftemangel kann schulseitig effektiv nur begegnet werden, wenn dem Fachlehrerprinzip auch in der Grundschule, die sich ja wesentlich dem Klassenlehrerprinzip verpflichtet fühlt, mehr Geltung verschafft wird.
3. Zur Qualifizierung von Seiteneinsteigern: Eine Nachqualifikation bedarf immer einer fachdidaktischen Grundierung und sollte daher nicht mit Lehrerfortbildungen gleichgesetzt werden, ganz gleich, ob hier nun ein Kapellmeister zum Lehrer oder ein Lehrer zum Musiker qualifiziert wird. Dabei sollten die Schuster bei ihren Leisten bleiben: Nachqualifizierungen dürfen sich nicht in Tipps & Tricks gestandener Praktiker und Fortbildungen ohne akademischen Anspruch erschöpfen, sondern müssen auf die Expertise der Studienseminare und Hochschulen zurückgreifen und im günstigen Fall von Letzteren ausgehen. Temporäre Überbrückungen dürfen nicht in einer dauerhaften Entprofessionalisierung münden. Der schleichenden Rückkehr zum Ein-Fach-Lehrer der 1920er und den ubiquitären Nivellierungsbestrebungen ist eine deutliche Absage zu erteilen. Ziel und Standard muss das grundständige Lehramtsstudium bleiben, das nicht durch Notfallpakete vermeintlich billiger „Schnellbleichen“ ersetzt werden darf!
4. Optimierte Personalsteuerung auf der Grundlage eines Bildungsmonitorings: Es muss schon reichlich verwundern, dass bei den Datenmengen, über die die Kultusministerkonferenz verfügt, es erst einer Privatinitiative für ein Bildungsmonitoring bedarf, um die Voraussetzung für eine funktionale Personalsteuerung zu schaffen. Dass es seit nunmehr 40 Jahren der KMK nicht gelingt, den „Schweinezyklen“ einer bedarfsgerechten Personalplanung zu entkommen, ist völlig unerklärlich – eine vorausschauende Bedarfsplanung wie sie Bayern mit seinen zirka 2.000 „Bedarfslehrkräften“ seit Jahren praktiziert, könnte hier Modell stehen.
Was die Studie insgesamt betrifft, so schien die Datenlage offensichtlich trotz insistierender Nachfragen lückenhaft zu bleiben: Mit Bayern bleibt ein ganz großes Bundesland unberücksichtigt, viele Daten anderer Bundesländer blieben unvollständig und so manche Spezifika einzelner Länder konnten nicht angemessen berücksichtigt werden oder wurden nicht aufgeführt: so zum Beispiel die besondere Problematik mancher Stadtstaaten, in denen die Grundschule sechs Jahre umfasst, wie das Wahlfach Musik in Sachsen, das eine gute Ergänzung zum Kernfach Musik darstellt und ein sinnvolles Modell auch für andere Bundesländer sein könnte.
Festzuhalten bleibt, dass es sich hier insgesamt weniger um ein Erkenntnis- denn um ein Umsetzungsdefizit handelt. Wenn wir also nicht zu dem eingangs zitierten Musikunterricht „magerster Sorte“ aus der Kaiserzeit zurückkehren wollen, gilt es, allen Sachverstand und politisch-administrativen Willen um einen Tisch zu versammeln, um gemeinsam und über Ländergrenzen hinweg tragbare Lösungen zu entwickeln. Eine gemeinsame Fachtagung wäre hier ein geeigneter Auftakt! Dies sind wir unseren Kindern und Jugendlichen schuldig.
Jürgen Oberschmidt, Präsident des Bundesverband Musikunterricht (BMU), Carl Parma, Präsident des BMU-Berlin, Mitglied des BMU-Bundespräsidiums
- Die vollständige Studie ist im Bereich „Fokus: Mangelfach Musik“ abrufbar unter www.miz.org