Stefan Meuschel, Geschäftsführer der Vereinigung deutscher Opernchöre und Bühnentänzer e.V. (VdO) nahm eine Rezension von Reinhard J. Brembeck über Glucks „Orphée et Eurydice“ in der Bayerischen Staatsoper („Süddeutschen Zeitung“ vom 22. Oktober 2003) zum Anlass, über das Thema Kritik und Operntheater nachzudenken.
Reinhard J. Brembeck beklagt sein beruflich bedingtes Missgeschick, sich offenbar zu Tode zu langweilen, wenn er auf der Bühne „die ewig gleichen Geschichten“ immer wieder auf’s Neue über sich ergehen lassen muss. Doch statt daraus die Konsequenz zu ziehen, seinen Beruf zu wechseln oder daran zu denken, dass nicht alle Theaterbesucher Kritiker sind, dass viele Theaterbesucher die alten Geschichten zum ersten Mal in der Vorstellung erzählt bekommen oder dass sie aus Liebe zu den alten Geschichten sie sich zum zweiten, dritten, vierten Mal erzählen lassen oder dass sie die alten Geschichten sich auch einmal von anderen Sängern, Dirigenten erzählen lassen wollen – nein, Reinhard J. Brembeck verallgemeinert sein professionelles Leiden und fordert den „Kick“ auf der Bühne für alle, nur auf dass er nicht einschlafe.
Das liest sich denn so – und es verdient, langsam gelesen zu werden: „Ein Fluch lastet auf dem Theater. Der Fluch, die ewig gleichen Geschichten immer wieder zu erzählen. Immer wieder wird die treu naive Desdemona von ihrem heroisch doofen Othello erwürgt, immer wieder finden sich Tristan und Isolde nur in der Musik und nicht im Bett.“ (Ein Tipp des Kritikers für die nächste Tristan-Inszenierung?)
„Welch merkwürdiges Phänomen: dass der Mensch sich an großer Musik sehr viel langsamer abhört, als er der Erzählungen müde wird.“ (Gibt es im Tristan keine große Musik?) „Schuberts ;Spinnrad-Gretchen‘ vermag selbst beim achtzigsten Mal zu bannen, aber Geschichten erschöpfen sich schneller, besonders auf dem Theater. Sie brauchen die Erneuerung, die Mode, den Kick, den bisher übersehenen Aspekt, um frisch wirken zu können, um dem Zuschauer“ (gemeint ist natürlich der Kritiker, der alles schon kennt) „die Illusion zu geben, sie erstmals zu hören…“ (weil er andernfalls Seit‘ an Seit‘ mit Brembeck einschläft).
Wenn Brembeck dann noch dialektisch arg kobolzend unterstellt, „weiten Teilen der Bevölkerung dürfte“ die Geschichte von Orpheus und Eurydike „noch heute geläufig sein“, weil sie „zu jenen Relikten der längst in den Hades abgewanderten Bildung“ gehöre, „durch die das deutsche Bildungssystem“ die Bevölkerung „so nachhaltig geschädigt“ habe, dann heißt das im Klartext: Da die bildungsgeschädigten Theaterbesucher gleich mir, dem Kritiker, die Orpheus-Geschichte bis zur Ermüdung kennen, darf sie auf der Bühne nur mit modischem Kick und unter Herauskitzeln bisher übersehener Aspekte erzählt, das heißt inszeniert werden. Was lehrt uns das? Inszenierungen müssen gekickt werden, weil der Kritiker sonst dem Fluch des Theaters erliegt und einschläft. Und die Regisseure müssen kicken, weil sie der Kritiker sonst nicht bemerkt (siehe oben: weil er nämlich schläft).
Da bleibt wenig Raum, dem ratsuchenden Leser der Kritik behilflich zu sein oder gar die künstlerischen Leistungen zu beschreiben und zu bewerten. Ist womöglich der Kick-geile Kritiker der auf dem Theater lastende Fluch?