Sind die zahlreichen Stiftungen ein Segen, da sie es oftmals sind, die Projekte und Initiativen zur kulturellen Teilhabe erst ermöglichen? Oder täuschen sie über das Problem hinweg, dass das Grundrecht auf kulturelle Teilhabe eigentlich auf Seiten der öffentlichen Hand viel vehementer umgesetzt werden müsste? Diesen Fragen rund um die Themen kulturelle Teilhabe und musikalische Grundversorgung diskutierte Andreas Kolb (nmz) mit Mustafa Akça (Rat für Kulturelle Bildung/Komische Oper), Dr. Ute Welscher (Bertelsmann Stiftung) und Dr. Anja Bossen (ver.di) im MusikCafé der Leipziger Buchmesse.
Andreas Kolb: „Kultur für alle? Wieviel Kultur braucht der Mensch?“ heißt die doppelte Fragestellung unserer Expertenrunde. Ich möchte Ihnen zu Beginn jeweils die gleiche Frage stellen: Wie steht es um die Teilhabe an kultureller Bildung und die Grundversorgung mit Musik bei Kindern und Jugendlichen aus Ihrer Sicht?
Ute Welscher: Wir haben in der Bertelsmann Stiftung einen starken Musikschwerpunkt, in dessen Rahmen wir uns für die Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen an musikalischer Bildung einsetzen. Wir haben uns zum Beispiel die Jugendbefragung, die das DIW (Dt. Institut für Wirtschaftsforschung) im Rahmen des Sozioökonomischen Panels (eine repräsentative Wiederholungsbefragung von Privathaushalten in Deutschland) angeschaut, in der die musikalischen Aktivitäten Jugendlicher abgebildet werden. Dabei ist herausgekommen, dass in Haushalten, in denen gut verdient wird und die Eltern bildungsnah sind, jedes dritte Kind Musik macht, in Haushalten mit geringerem Einkommen und niedrigem Bildungs- und Berufsstatus der Eltern jedoch nur jedes zehnte Kind. Oder: Wenn der Vater Abitur gemacht hat, verdoppelt sich die Wahrscheinlichkeit, dass ein Jugendlicher ein Instrument spielt oder im Chor singt. Das sind Ergebnisse, die nicht überraschend, aber dennoch erschreckend sind und die zeigen, dass die Teilhabe an kultureller Bildung sehr ungleich verteilt ist insbesondere was musikalische Aktivitäten wie das Erlernen eines Instruments betrifft, das doch sehr voraussetzungsvoll ist.
Kolb: Herr Akça, wie sieht es aus der Sicht eines Opernhauses wie der Komischen Oper, wie sieht es aus Ihrer Sicht aus mit dem Thema kulturelle Teilhabe von Kindern und Jugendlichen?
Mustafa Akça: Sie ist vorhanden. Nur, man könnte an großen Theaterhäusern und auch an Opernhäusern viel mehr tun. Ja, man muss viel mehr tun. Es geht um Niedrigschwelligkeit, es geht um Barrieren, die da sind. Man kann versuchen, sie wegzureden und sagen „Türen und Tore sind offen für Teilhabe, für Chancengleichheit“. Sind sie nicht in meinen Augen. Da kann man viel dagegen tun, indem man andere Dinge tut, als für gewöhnlich. Eben anders vermitteln, kleinteiliger, in Milieus hineingehen.
Kolb: Frau Bossen, auch an Sie nochmal die grundsätzliche Frage „Wie steht es um die Teilhabe an kultureller Bildung und die Grundversorgung mit Musik?“
Anja Bossen: Ich würde gerne nochmal einen Schritt zurückgehen, denn diese Frage „Wie steht es um die kulturelle Bildung?“ kann man ja eigentlich nur dann beantworten, wenn man von einem Idealzustand ausgeht. Also „Wie soll es sein?“. Bei der Frage „Wie viel Kultur braucht der Mensch?“ ist das Wort „viel“ eigentlich gar nicht das, worum es heute geht. Sondern es geht darum, was politische Entscheidungsträger in den letzten Jahren entschieden haben: Es geht es nicht um „viel“, sondern um „wenig“. Und möglichst um immer noch weniger. Wie sieht es aus mit der kulturellen Bildung in der Schule, in den ästhetischen Fächern: „Wie wenig findet das statt? Von wie wenig ausgebildeten Lehrern?“. Auch in der Erzieherinnen-Ausbildung spielt die kulturelle Bildung eigentlich keine Rolle oder nur eine sehr geringe. Und natürlich möchte man auch nicht besonders viel Geld dafür ausgeben staatlicherseits. Also ist für mich das Schlagwort nicht „viel“, sondern „wenig“ und das halte ich für bedenklich. Kulturelle Bildung und kulturelle Teilhabe – was auch nochmal zwei verschiedene Dinge sind – könnten einen Beitrag dazu leisten, diese Probleme, die wir im Moment haben – vor allem mit Emotion, mit der Verarbeitung von Emotion – auch zu lösen.
Kolb: Kulturelle Bildung, kulturelle Teilhabe: Könnten Sie das auch nochmal ausdifferenzieren, wo da der markante Unterschied liegt?
Bossen: Teilhabe wäre auch nur ästhetisches Erleben allein. Das heißt im Prinzip könnte die Bertelsmann-Stiftung jetzt auch Konzerte von Helene Fischer sponsern und sagen „Die, die eben bedürftig sind, die da gerne hin wollen, kriegen das gesponsert, die haben dann kulturell auch teil“. Es sei denn man sagt „Helene Fischer kann nicht singen und das ist keine Kultur“. Bildung hat andere Ziele. Bildung hat nämlich das Ziel, dass man Sinn für sich findet; dass man nicht nur ästhetisch erlebt, sondern das Erlebte auch reflektiert.
Kolb: Jetzt sind wieder bei der Arbeit der Bertelsmann-Stiftung abgekommen. Frau Welscher, Sie sind Leiterin des Programms „Musikalische Förderung“. Warum engagiert sich Bertelsmann in diesem Feld?
Welscher: Ich nehme gerne den kulturellen Bildungsbegriff von Ihnen auf, Frau Bossen. Wir haben uns das Ziel gesetzt, dass alle Kinder und Jugendlichen die Chance, die Gelegenheit bekommen sollen, mit kultureller Bildung in Berührung zu kommen. Und damit meinen wir jetzt wirklich kulturelle Bildung in dem Sinne, dass beispielsweise Singen, Theaterspielen, Tanzen und das Musizieren mit Instrumenten Bestandteil der täglichen Praxis in Kitas und Schulen sein sollte. Dabei arbeiten wir mit einem Organisationsentwicklungsansatz arbeiten, indem wir nicht einzelne Aktivitäten wie Konzerte und besondere musikalische Events unterstützen, sondern gemeinsam mit allen pädagogischen Fachkräften einer Einrichtung daran arbeiten, dass die ganze Organisation, der pädagogische Alltag, die Teambesprechungen und Konferenzen und Aktivitäten mit Eltern von Musik durchzogen sind. Unser Ziel ist dabei, dass im Sinne einer musikalischen Grundversorgung in Kitas und Schulen, einfach jedes Kind mit Musik in Berührung kommt. Natürlich besteht diese Chanceerst einmal nur in Kindertagesstätten und Grundschulen, eben da wo erst mal alle Kinder sind. Danach differenziert es sich aus. Uns liegt insgesamt das Thema Grundversorgung am Herzen und wir versuchen aus den verschiedenen Perspektiven daran zu arbeiten und die verschiedenen Verbände und natürlich auch die Politik dabei zu unterstützen, diese Grundversorgung zu gewährleisten.
Kolb: Herr Akça, sehen Sie sich als Grundversorger? Wie kommen Sie zu den Kindern, zu den Jugendlichen? Was macht ihr Projekt „Selam Opera“?
Akça: Ich sehe mich eher als Brückenbauer. Was wir konkret machen, ist: Wir gucken uns mit „Selam Opera“ Stadtteile oder Milieus aus und gehen dorthin, wo wir unsere Zielgruppe vermuten. Ich bin ein typisches Gastarbeiterkind in dritter Generation, in Berlin geboren, und da ich selber aus diesen musikerziehungsfernen Milieus komme, weiß ich wo das Klientel ist. Im Rahmen unserer Projekte fahren wir dann raus in diese Stadtteile mit unseren Opernsängerinnen und –sängern, mit Musikern, die sonst täglich im Orchestergraben sitzen, oder die auf der Bühne stehen. Die maximale Ensemblegröße ist vier. Wir gehen nicht in eine Schule, sondern in Stadtteilbegegnungszentren, wir laden im Vorfeld gerne Familien ein, um uns mit deren Stadtteil auseinanderzusetzen. Wir lassen sie an unserem Theater teilhaben und fragen sie dann nach ihrer Meinung, so dass wir diese Rückmeldung wieder in unser Opernhaus transportieren und daraus dann wieder weitere Projekte „spinnen“. Und so geht das immer weiter.
Kolb: Also Sie reduzieren die Oper nicht auf ein Handgepäck, mit dem Sie in die Stadtteile gehen können, sondern Sie entwickeln eigene Projekte?
Akça: Nein, es ist keine Schmalspur-Opernvariante, sondern es ist wirklich so, dass die Hauptdarstellerin unserer Carmen mit raus fährt und das ist alles andere als Handgepäck. Es ist auch so, dass wir zum Beispiel als ich angefangen habe 2011 und damit beauftragt war, das Ganze ein bisschen diverser zu gestalten, auch unseren Kinderchor geöffnet haben für die diverse Stadtgesellschaft, die es in Berlin nun mal gibt.
Kolb: Divers ist ein wichtiges Stichwort, auf das wir noch eingehen sollten. Frau Bossen wollte direkt antworten.
Bossen: Frau Welscher, mich würde interessieren, warum machen Sie das eigentlich? Denn für mich ist es vollkommen widersprüchlich, dass der Staat einerseits sich aus der kulturellen Daseinsvorsorge zurückzieht und jetzt kommen die Stiftungen ins Spiel: Wir haben über 20.000 Stiftungen, die sich mit Kultur oder kultureller Bildung befassen in Deutschland. Die privaten Anbieter kommen ins Spiel, bestimmen, wo es langgeht, evaluieren ihre Projekte auch und haben dadurch wiederum Einfluss auf politische Entscheidungsträger. Wie kann das sein? Für mich ist das jetzt so ein bisschen wie bei den Tafeln. Also man kann auch fragen „Wie wenig Essen braucht der Mensch eigentlich?“ und jetzt springen private Tafeln ein, weil der Staat es offensichtlich nicht mehr schafft, dass alle Menschen in Deutschland genug zu essen haben. Deswegen die Frage „Warum machen Sie das?“
Welscher: Das ist ein wichtiges Thema. Wir hatten das gestern auch schon bei der Diskussion über den Musiklehrermangel. Der Deutsche Kulturrat hat letztes Jahr in einer wie ich fand sehr guten und wichtigen Stellungnahme ein gesamtgesellschaftliches Bündnis für kulturelle Bildung gefordert. Davon sehen wir Stiftungen uns als Teil, genauso wie die Musikverbände oder die Kulturinstitutionen. Die gesamte Zivilgesellschaft sollte sich für kulturelle Bildung einsetzen, das kann nicht einer allein. Definitiv keine Aufgabe von Stiftungen ist es, Aufgaben der öffentlich Hand, wie den Musik- oder Kunstunterricht zu finanzieren. Der Musikunterricht gehört genauso wie der Kunstunterricht zu den Pflichtaufgaben der öffentlichen Hand und nd ich kenne keine Stiftung, die Musikunterricht finanziert. Wir Stiftungen – und ich denke, ich kann hier auch für alle, die im „Rat für kulturelle Bildung e.V.“ engagierten sieben Stiftungen sprechen – sehen uns eher als „On-Top“.oder vielleicht auch als Ermöglicher von Experimentierfeldern und Innovationen. Wir sind nicht dafür da, das aufzufangen, was eine staatliche Versorgung nicht kann. Dazu wären auch unsere Ressourcen viel zu klein. Ich sehe auch, dass unser Engagement manchmal politisch als Feigenblatt hergezeigt wird, wenn Projekte an die Stelle von Pflichtunterricht gerückt werden. Das ist aber keinesfalls unser Interesse. Gleichzeitig sollte dies auch nicht zur Folge haben, dass wir uns aus dem Feld der Kulturellen Bildung zurückziehen.