Unter dem Motto „publikum.macht. kultur.” veranstaltete die Kulturpolitische Gesellschaft e.V. gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung und der Friedrich-Ebert-Stiftung Ende Juni den 3. Kulturpolitischen Bundeskongress, wie bereits 2001 und 2003 überwiegend in den Räumen des Forum Berlin der FES zwischen Landwehrkanal und Tiergarten. Die wieder im Auftrag des Bundeskanzleramtes, genauer: der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, durchgeführte und mit Referenten sowie Podiumsdiskutanten prall besetzte Tagung erlebte einen Teilnehmeransturm, nicht zuletzt von jungen Leuten, unter ihnen Studenten, Journalisten und Projektleiter (selbstverständlich inclusive zahlreicher -innen), angelockt von dem konkreteren Leitmotiv „Kulturpolitik zwischen Angebots- und Nachfrageorientierung”.
Wer von diesem Kongress jedoch eine eindeutige Stoßrichtung erwartet hatte, die entschiedene und begründete Forderung einer nachhaltigen Kulturpolitik, schlich sich am Ende mit einigen Informationen und auch Anregungen, vor allem aber mit gesteigertem kulturpolitischem Frust von dannen. Eines nämlich wurde im Verlauf der zwei Tage immer deutlicher: Alle führen Kultur im Munde, aber nahezu jeder empfindet dabei einen anderen Geschmack. Zwar ist Pluralität ja nichts Verwerfliches, aber hier zeigte sich, dass, wenn es um Kunst und Kulturpolitik, um Vermittlung und um Nachfrage geht, es unter den Advokaten, Konzeptoren und Machern überhaupt keinen gemeinsamen Nenner gibt. Unter Kultur versteht jeder Seins und jede Ihres, und längst nicht jede/r hat dabei auch Kunst im Visier.
Häufig wird mit einem undefinierten Kulturbegriff argumentiert und operiert, der auch noch auf entsprechend aussageschwachen Statistiken basiert. So teilte Oliver Scheytt, Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft, gewissermaßen als Ausgangsgröße für weitere Überlegungen mit, die Hälfte der Bevölkerung nutze Kulturangebote im Sinne von Live-Erlebnissen (also einschließlich Museumsbesuch, dagegen nicht gerechnet etwa private Lektüre); wie breit aber das inhaltliche Spektrum der Veranstaltungen bei dieser Messung war, ob das Saalpublikum bei „Wetten, dass...“, die Zuhörer der Blasmusik bei Kirmes und Schützenfest oder die Fans jedweden open-air Rock-Festivals in denselben Topf gezählt wurden wie die Besucher von Staatsoper, Avantgarde-Theater und Dorforgelvespern, war nicht zu erfahren. Vermutlich liegt dem Angebotsnutzer-Anteil von 50 Prozent ein sehr großzügiger Kulturbegriff zugrunde, aber welchen Wert hat eine solche Zahl für die kulturpolitische Diskussion?
Während Scheytt vermutlich eher für ein an Hochkultur orientiertes Konzept plädierte, als er vom Erwerb kultureller Kompetenz sprach und forderte, bereits im frühen Kindesalter mit der Publikumsförderung zu beginnen, vertrat Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung und somit Veranstaltungspartner, mehr und mehr die Gegenposition: Kultur müsse sich der Mobilisierung der Öffentlichkeit stellen – „raus aus den Tempeln, hinein in den Alltag“, mit einem Spektrum, das „von elitär bis zur Unterhaltung“ reiche. (Ließ sich der gelernte Theologe Thomas Krüger da zu einer fragwürdigen Analogie verleiten?)
Als Scheytt dann auf dem Abschlusspodium zu dem provokanten Thema „Kultur für alle – Kunst für wenige?“ forderte, die Vermittlungsarbeit zu verstärken, sich um die anderen 50 Prozent der Nichtnutzer von Kulturveranstaltungen zu bemühen, wies Krüger diese Haltung als überheblich zurück: Warum solle man den Besuch im Fußball- oder Eishockey-Stadion denn nicht auch als Teilnahme an Kultur werten?
Anfangs hatte Krüger von einer „Gefahr der Entertainisierung“ von Kultur gesprochen, der ausschließlichen Produktion dessen, was sich todsicher verkaufe. Nun prangerte der frühere Berliner Senator für Jugend und Sport (SPD) pauschal die „Kulturausgaben in Millionenhöhe für Einrichtungen der Hochkultur mit geringer Klientel“ an als „kulturellen Overkill auf Kosten derer mit anderen Kulturinteressen und wenig Geld“.
Bei derart diffusen Begriffen und Vorstellungen von Kunst und Kultur konnte auf diesem Markt der Möglichkeiten letzten Endes jeder punkten, zumal für kritisch-argumentative Auseinandersetzungen wenig Zeit und Gelegenheit blieben. Auch verpufften in der Hektik der zahlreichen, vielfach parallelen Panels und Foren manche richtungsweisende Aussagen und bedenkenswerte Thesen – Staatsministerin Christina Weiss: „Wir brauchen Kunst zur Ausbildung der Subjektivität“; Jörn Rüsen (Essen): „Wissenschaft, Religion und Kunst zusammen machen den Sinn versus Nutzen, das heißt die Reflexibilität des Menschen aus“; Wolfgang Zacharias (München): „Kann es darum gehen, den bestehenden traditionellen Institutionen ein Publikum ‚hinzubilden‘, um dadurch die Traditionen zu bewahren?“
Die Gretchenfrage eines kulturpolitischen Konzepts für die Zukunft, die Frage nämlich nach der Rolle und Funktion der Künste, der Hochkultur in der Gesellschaft, blieb außen vor. Was die fortschreitende künstlerische Verödung des Bildungswesens impliziert und was die Degenerierung künstlerischer Ereignisse zu gesellschaftlichen Events bedeutet, wurde kaum erwähnt und nicht analysiert. Christina Weiss wies darauf hin, dass die neuen, CDU-geführten Landesregierungen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen bereits den Kulturminister einsparen, ebenso wie viele Städte den früher selbstverständlichen Kulturdezernenten. Dazu passt dann auch, dass sich im Wahlprogramm der CDU/CSU zu diesem Thema kaum mehr findet als der umwerfend lapidare Satz: „Kunst und Kultur sind untrennbar mit der Identität der Deutschen verbunden“ und sich die Kanzlerkandidatin darauf beschränkt, diese Feststellung mit ihrer jährlichen Anwesenheit bei der Eröffnungsvorstellung auf dem Grünen Hügel zu unterstreichen.
Nach diesem Kongress drängt sich die Ahnung auf, dass die Schrumpfung der Kultur- und Bildungsetats nicht nur Ursache, sondern bereits Wirkung konzeptloser Politik sind, bei der Kultur unter das Was-ihr-wollt-Prinzip fällt und der Trend allmählich sinkender Ansprüche von vielen mit Erleichterung verfolgt wird: Das Populäre, Trendsichere regelt sich im Verhältnis von Angebot und Nachfrage schließlich selbst, ohne hohe Subventionen und mühsame Förderung kultureller Kompetenz. Vielleicht könnte da der 4. Kulturpolitische Bundeskongress ansetzen?