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Musikwissenschaft – im Streitgespräch

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Zur Diskussion über ein Memorandum der Gesellschaft für Musikforschung
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In der ersten Ausgabe der „Musikforschung“ 1999 erschien ein sogenanntes Memorandum zur Lage und Zukunft des Hochschulfaches Musikwissenschaft. Es ist gerichtet an die entsprechenden Entscheidungsträger auf Ebene der Bundesländer. Beteiligt an dessen Abfassung waren auch Vertreter des Dachverbandes der Studierenden der Musikwissenschaft (DVSM), denen der Entwurf zur Stellungnahme vorgelegt wurde. Die nmz gibt dieses Dokument im Wortlaut wieder. Zwischenzeitlich hat sich auf der auch musikwissenschaftlichen Mailing-Liste „MuwiSpektrum“ (Informationen zu Struktur, Absicht und Funktionsweise finden sich unter: www.nmz.de/info/muwispektrum.shtml ) eine bisweilen heftige Diskussion über dieses Paper, aber auch über die gegenwärtige Funktion und Stellung der Musikwissenschaft entsponnen. Foto: Martin Hufner 1999 Der Musikwissenschaftler vor leeren Reihen. Das Publikum kommt wenn er geht. (Foto: Martin Hufner) Aus dem Memorandum Die Universitäten befinden sich gegenwärtig in einer Phase der Umstrukturierung. Im Zuge verschärfter Sparzwänge und Sparmaßnahmen gerät das Fach Musikwissenschaft zunehmend in Bedrängnis: ein Universitätsinstitut soll geschlossen werden, Stellen werden wegrationalisiert, C 4-Stellen werden zu C 3-Stellen abgestuft, womit das Fach in der Infrastruktur bedroht wird, ganze Teilgebiete und deren Studiengänge werden aufgegeben (zum Beispiel Musikethnologie, Vergleichende Musikwissenschaft), andere Ausbildungsgänge, die bisher an mehreren Universitäten vorhanden waren, werden an einer Universität konzentriert, und schließlich werden vorhandene Stellen zwar zur Besetzung ausgeschrieben, aber letztlich nicht besetzt. Angesichts der Tatsache, daß bei dieser zweiten Umstrukturierung nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend Fragen der Wirtschaftlichkeit und Maßstäbe in den Vordergrund rücken, die sich auf Bildung und Kultur insgesamt nur kontraproduktiv auswirken, sieht sich das Präsidium der Gesellschaft für Musikforschung zu einer Standortbestimmung des Faches Musikwissenschaft veranlaßt. Die Sparmaßnahmen gefährden zunehmend und ernsthaft die Substanz des Faches Musikwissenschaft mit seinen vielfältigen Verästelungen. Eine weitere Reduzierung von Personal- und Sachmitteln ist nicht mehr verantwortbar. Die Musikwissenschaft ist von ihrem gesellschaftlichen Stellenwert, aber auch von der Anzahl der Studierenden schon längst kein sogenanntes kleines Fach mehr und ist außerdem wie kaum ein anderes Fach mit anderen Fächern vernetzt. Hierzu steht die personelle Ausstattung der Institute in krassem Gegensatz, und jede weitere Kürzung mindert den Qualitätsstandard des Faches und erschwert die Wahrnehmung seiner vielfältigen gesellschaftsrelevanten Aufgaben. Aufgrund der Tatsache, daß Musik eine internationale, grenzüberschreitende, nicht durch Sprachbarrieren gehinderte Kunst ist, trägt die Musikwissenschaft sowohl durch die erforschten Gegenstände als auch durch die bestehende internationale Vernetzung der Forschung zur angestrebten Europäisierung bei. Sie gehört zu den Fächern, bei denen Interdisziplinarität im Sinne einer Kulturwissenschaft eine vorrangige Rolle spielt. Im übrigen hat das Fach eine in hohem Maße gesellschaftsrelevante Funktion zu erfüllen. Die Geisteswissenschaften und somit auch die Musikwissenschaft sind nach der allgemeinsten und umfassendsten Definition „der Ort, an dem sich moderne Gesellschaften ein Wissen von sich selbst in Wissenschaftsform verschaffen“ (Mittelstraß). Sie fungieren als Garant des „kollektiven Gedächtnisses“, indem sie das, was die Vergangenheit der Gesellschaft ausmacht, und damit ihre Identität wesentlich prägt, bewahren und in der wissenschaftlichen Aufarbeitung vergegenwärtigen. Hinzu kommt, daß die Aufgaben der Musikwissenschaft in der heutigen Freizeitgesellschaft, in der Musik sich wie nie zuvor verfügbar und omnipräsent erweist, wesentlich gewachsen sind. So kann die Musikwissenschaft zum Beispiel in ihren systematischen, soziologischen und ethnologischen Teilgebieten Aussagen über die „Konsumgewohnheiten“ von Musik, über ihre vielfältigen gesellschaftlichen Funktionen (Werbung, als Droge, in der klinischen Therapie) sowie über die Globalisierung und Vernetzung von Musikkulturen machen und auf diese Weise Ergebnisse von unmittelbar volkswirtschaftlichem Nutzen erbringen. (...) Ohne hervorragend qualifizierte Musikwissenschaftler können zentrale Aufgaben bei den Rundfunk- und Fernsehanstalten (Fachredakteure E-Musik und U-Musik, Oper, Musik und Wort), bei den Printmedien (Musikkritik), im Kulturmanagement (Orchester), in der Dramaturgie (Theater), bei Musikfestivals oder bei Tonträgerproduktionen nicht in sachlich erforderlicher Weise erfüllt werden, wie das bisher noch möglich und für die internationale Wettbewerbsfähigkeit dieser Sparten unabdingbar ist. Gerade diese Bereiche gewinnen angesichts gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen zunehmend an Umfang und Bedeutung. Hierfür muß ebenfalls qualifizierter Nachwuchs herangezogen werden. (...) Die Gesellschaft für Musikforschung setzt sich entschieden und mit Nachdruck dafür ein, daß der Status des Faches Musikwissenschaft in der Zukunft nicht eingeschränkt wird. Dies bedeutet aber auch, daß das Fach an den Universitäten mit einer in jeder Hinsicht sachgemäßen Ausstattung erhalten bleibt. Gleiches gilt für diejenigen Musikhochschulen, an denen musikwissenschaftliche Institute oder Abteilungen vorhanden sind und die teilweise auch über Promotionsstudiengänge verfügen. Wichtige Teilgebiete des Faches wie zum Beispiel Musikethnologie und Musiksoziologie als auch Musiktheorie (einschließlich entsprechender praxisrelevanter Ausbildungsanteile) müssen auf jeden Fall erhalten und weiter ausgebaut werden. Das Präsidium der Gesellschaft für Musikforschung bittet Sie, sehr verehrte Frau Ministerin/ sehr verehrter Herr Minister, mit Nachdruck darum, dafür Sorge zu tragen, daß das Fach Musikwissenschaft auch in Zukunft mit entsprechender Ausstattung an den wissenschaftlichen und künstlerischen Hochschulen Ihres Bundeslandes erhalten bleibt beziehungsweise entsprechend ausgebaut und damit die ihm zukommende Stellung bewahrt wird. Wichtige Entscheidungen sollten künftig erst nach einem eingehenden Diskurs mit dem Fach getroffen werden. Kommentar Was ist Musikwissenschaft und wieso bedarf es dieses Faches als eines wissenschaftlichen Forschungsbereiches? Mit diesen Fragen ist die Musikwissenschaft seit jeher beschäftigt. Während in Zeiten der Hochkonjunktur jeder sein eigenes Süppchen vor sich hinköcheln konnte, ist zur Zeit, unter dem Eindruck vehementer Einsparmaßnahmen (tatsächlich: Etatkürzungen) die organisatorische Substanz dieses Faches angegriffen. So schreibt Oliver Kopf in „MuWiSpektrum“: „In Kiel wurde zum Beispiel im Laufe weniger Jahrzehnte die Zahl der Lehrstühle halbiert. Dazu kommt noch die bedauerliche Tatsache, daß jüngst die Stelle für landesgeschichtliche Musikforschung beziehungsweise der Schwerpunkt für skandinavische Musik nach der Berufung von Professor Heinrich Schwab nach Kopenhagen nicht neu besetzt wurde und somit ein langjährig etablierter Institutszweig brachliegt und abstirbt.“ Das Selbstverständnis der deutschen Musikwissenschaft in unruhiger Zeit hat einen Knacks. Das ist verwunderlich, denn an der Spitze der Musikwissenschaft stehen jetzt eigentlich die Brüder (Schwestern) und Söhne (Töchter) der 68er Generation, die in der Musikwissenschaft eigentlich zirka zwei bis zehn Jahre später zu datieren ist. Während man sich damals um die Forschungsschwerpunkte schwere Gedanken machte und mit der Väter/Mütter-Generation hart ins Gericht ging, stehen jetzt die Generationen dicht zusammen. Obwohl die „Jugendorganisation“ (DVSM) neue Themenbereiche entdeckt, bleibt sie der alten Organisationstruktur verhaftet. Das Trägheitsmoment der akademischen deutschen Musikwissenschaft ist nicht zu unterschätzen. Da wird im „Memorandum“ von „gesellschaftlichem Stellenwert“ und der „Vernetzung mit anderen Fächern“ gesprochen. Schaut man in die Vorlesungsverzeichnisse und Publikationen, fragt man sich verwundert: Worüber reden die eigentlich? Was ist Wunsch, was ist Traum, was ist Realität? So soll „auf der letztjährigen GfM-Tagung Professor Finscher gefordert haben, es müsse endlich wieder mehr über die Musik des 16. Jahrhunderts (oder war es das 17. ?) geforscht werden.“ Unter dem Überdruck einer komplexen Leistungsgesellschaft sind solche Worte eines Exponenten der gegenwärtigen deutschen Musikwissenschaft quasi konträr zu den Überlegungen des Memorandums. Die Passage zur Nützlichkeit der wissenschaftlichen Ausbildung für Rundfunk-Fernseh-Print-Medien, Kulturmanagement und Dramaturgie zeugt von einer Weltfremdheit, die ihresgleichen sucht, aber gleichzeitig die gesellschaftliche Bedeutung des Faches unter Beweis stellen soll. So wirkt dieses „Paper“ als ein Dokument der Gerontokratie, die die Musikwissenschaft nach dem Tod von Carl Dahlhaus erfasst hat. In Zeiten der Prosperität hat man es sich gemütlich gemacht und die engagierten Bemühungen in die eigenen Seitenfächer abgeschoben: Musikpsychologie, Popularmusik, die Auseinandersetzung mit der Neuen Musik überließ man fast komplett dem Feuilleton. Nun steht das Zelt der Musikwissenschaft an einer sandigen Küste, die langsam aber sicher unterspült wird. Den Anker „Memorandum“ hat man offensichtlich ins Wasser gesetzt.

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