Im Dezember 2009 schlug der „Fall Eggebrecht“ hohe Wellen: Hans Heinrich Eggebrecht, einer der renommiertesten deutschen Musikwissenschaftler, wurde als Massenmörder entlarvt. Der junge Musikforscher Boris von Haken behauptete damals in der ZEIT, der 1999 verstorbene Freiburger Professor habe als Soldat an einer Massenerschießung von mindestens 14.700 Juden mitgewirkt. Die Nachricht, dass Eggebrecht „an allen Stadien, an allen Phasen der Ermordung der Juden in Simferopol beteiligt“ gewesen sei, schockierte die Musikwelt. Wie war es möglich, dass dies so lange unentdeckt bleiben konnte? Auf einmal glaubte man auch in Eggebrechts Schriften Spuren braunen Denkens nachweisen zu können und wollte sie in den Giftschrank verbannen. Der einst verehrte Forscher war zum NS-Täter, zum „echten Mörder“ (Die Welt vom 21.12.2009) abgestempelt.
Als Jens Malte Fischer, Claudia Maurer Zenck und Friedrich Geiger die vorgelegten Beweise überprüften, stießen sie allerdings auf erhebliche Lücken. Aus den Quellen geht nicht eindeutig hervor, dass Eggebrecht an dieser Erschießung tatsächlich beteiligt war. Es war also fahrlässig, ihn als Mörder zu bezeichnen. Die ebenfalls in großen Zeitungen veröffentlichten und detailliert im Internet nachlesbaren Korrekturen erreichten nicht mehr die Publizität der früheren Sensationsmeldung. Diese hatte dem Ruf des renommierten Wissenschaftlers schwersten Schaden zugefügt – Eggebrechts Sohn sprach von „perfektem Rufmord“.
Bevor Boris von Haken an die Presse ging, hatte er seine schwerwiegenden Funde im September 2009 auf der Tübinger Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung vorgestellt. In dieser Standesorganisation waren die NS-Verstrickungen von Kollegen lange tabu gewesen. Als es Clytus Gottwald 1970 bei der Bonner Jahrestagung gewagt hatte, Heinrich Besselers Rolle in der NS-Zeit zu beleuchten, hatte es einen Skandal gegeben. Josef Wulf und Fred K. Prieberg, die ähnliche Fragen bereits früher gestellt hatten, wurden damals als unseriöse Außenseiter gebrandmarkt. So blieb es studentischen Initiativen in Berlin, Hamburg und Freiburg, Forschern aus den USA und den Niederlanden (Christoph Wolff, Pamela Potter, Willem de Vries) sowie dem Ausstellungsprojekt Entartete Musik (Düsseldorf 1988) überlassen, solchen Problemen nachzugehen. Der kritische Blick fiel dabei zunächst auf Heinrich Besseler, Wolfgang Boetticher, Joseph Müller-Blattau und Hans Joachim Moser.
Erst etwa seit zwölf Jahren befasst sich die Gesellschaft für Musikforschung intensiver mit der NS-Vergangenheit ihres Berufsstandes. Auf die im März 2000 auf Schloss Engers durchgeführte Konferenz „Musikforschung. Faschismus. Nationalsozialismus“ folgte im Januar dieses Jahres eine Mannheimer Tagung (vgl. nmz Online vom 24.1.2012). Dabei tritt eine jüngere Forschergeneration auf, die sich offen und ohne Scheuklappen den Quellen widmet. Auf ihr besonderes Interesse stießen die Akten zur Entnazifizierung von Heinrich Besseler, Joseph Müller-Blattau und Friedrich Blume. Obwohl der „Fall Eggebrecht“ auch eine Mahnung bedeutete, die Quellen sorgfältiger zu überprüfen und nicht zu schnell an die große Öffentlichkeit zu treten, gibt es weiterhin eine Neigung zu „Enthüllungen“. Wo man früher die NS-Verstrickungen prominenter Musikologen gerne nachsichtig verschwieg, besteht heute die entgegengesetzte Tendenz zu scharfer und teilweise ungerechter Verurteilung.
Jüngstes Beispiel ist der Umgang mit Friedrich Blume, der als Herausgeber der Enzyklopädie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ und langjähriger Präsident der Gesellschaft für Musikforschung zu den international angesehensten Musikforschern gehörte. Am 9. Mai 2012 jedoch veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen Artikel mit der Überschrift „Charakterlich geprüft und doch ein Hetzer/Kampfbündler Friedrich Blume: Es gibt jetzt handfeste Beweise für die Nazi-Vergangenheit des einflussreichsten deutschen Musikwissenschaftlers“. Sein Autor, der Journalist Helmut Mauró, stützte sich dabei auf einen Aufsatz von Michael Custodis aus der „Musikforschung“ (2012/1). Er zitierte Custodis so: „Blume … war nicht nur Mitläufer, sondern ideologischer Hetzer.“ Noch am gleichen Tag meldeten auch die Kulturnachrichten des DeutschlandRadio, Blume sei ein ideologischer Hetzer gewesen.
Im Custodis-Aufsatz sucht man allerdings vergeblich nach Belegen für diese Behauptung. Zitiert wird vielmehr das Gutachten der Entnazifizierungskommission, welches Blume entlastete. Fred K. Prieberg hatte ähnlich gewertet; ihm zufolge hat Blume 1938 bei den Düsseldorfer Reichsmusiktagen in seinem Vortrag „Musik und Rasse“ die NS-Rassenlehre als unwissenschaftlich gebrandmarkt. Die musikalische Rassenforschung hatte er zwar als eine wichtige Aufgabe bezeichnet, die allerdings wegen ihrer Komplexität Sorgfalt und Zeit erfordere. Blume wandte sich damit indirekt gegen selbsternannte „Rassenforscher“ wie Richard Eichenauer und Otto zur Nedden, den er danach in einem Gutachten vernichtend beurteilte. Friedrich Blume hat also die ideologischen Hetzer aktiv bekämpft, ohne freilich die Judenverfolgung verhindern zu können. Es verwundert, dass er nun selbst als „Hetzer“ gelten soll und damit auf eine Ebene gerät mit den Propagandisten Eichenauer, Gerigk, Hasse, Trienes und Ziegler. Auch über Blumes Mitgliedschaft im Kampfbund für deutsche Kultur weiß man zu wenig, um ihm daraus einen Strick drehen zu können.
Eine kritische Auseinandersetzung mit Leben und Werk Friedrich Blumes ist notwendig und legitim, sie muss aber an Quellen belegt werden. Ansonsten hat die Unschuldsvermutung zu gelten. Der Umgang mit der Musik im Nationalsozialismus erfordert statt des Holzhammers Differenzierung, selbst wenn diese weniger öffentlichkeitswirksam ist als schockierende Enthüllungen. Zurückhaltende Sorgfalt hat der in Münster lehrende Michael Custodis beispielsweise in Aufsätzen zu Walter Trienes, Joseph Müller-Blattau und Wolfgang Steinecke walten lassen. Eine solche argumentative Differenzierung findet sich auch in dem ausführlichen und mehrfach überarbeiteten Wikipedia-Artikel zu Friedrich Blume (von Mauró merkwürdigerweise als „Reinwaschung“ abqualifiziert). Den Artikeln zu Wolfgang Boetticher, H. H. Eggebrecht, Rudolf Gerber, Erich Schenk und Joseph Müller-Blattau lassen sich ebenfalls die Fortschritte ablesen, welche es bei der Aufarbeitung der NS-Musikwissenschaft in den letzten Jahren gegeben hat.