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Nach dem Weltuntergang

Untertitel
Pearl Jams „Binaural“: Die Grunge-Helden experimentieren mit der Vergangenheit
Publikationsdatum
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nmz 2000/10 | Seite 36
49. Jahrgang | Oktober

Jazz, Rock, Pop

Nach dem Weltuntergang

Pearl Jams „Binaural“: Die Grunge-Helden experimentieren mit der Vergangenheit

Kurt Cobain wollte eines auf keinen Fall sein: der Führer der orientierungslosen „Generation X“, der Einäugige unter Blinden. Als sich dem Sex-Appeal seines „Teen Spirit“ selbst durch brachialen Avantgardismus und konsequenten Entzug nicht Einhalt gebieten ließ, quittierte er seinen Erfolg bei den Teenies dieser Welt mit der Schrotflinte. So wurde er zum unsterblichen Idol im Nirvana der Neverending-Pop-Ikonen.

Eddie Vedder, der nie so viel Sex hatte und dem bei allem Weltschmerz die nötige suizidäre Radikalität fehlte, hat dagegen das Problem des Überlebenden: Wie soll man, kommerziell und künstlerisch erfolgreich oder zumindest halbwegs anständig, weitermachen, wenn das, wofür man stand, passé und perdu ist. Für die Kids des neuen Jahrtausends wird Seattle bald der Sound von Mom und Dad sein. Nichts ist peinlicher als der Rockismus älterer Herrschaften.

Eddie Vedder und Co. scheinen das zu ahnen. Ihren Ausweg aus der Sackgasse haben sie den Genres abgeschaut, die up to date sind: Warum soll man nur in Hip- und TripHop, in House oder Techno sampeln, sprich: aus dem Recycling des Uralten aufregend Neues herstellen können. Ein Musiker-Leben nach Grunge ist möglich, wenn man entschieden hinter die eigenen Anfänge zurückgeht: statt den „teen spirit“ von einst an immer öderen Rock zu verraten, suchen Pearl Jam nach Resten der Revolte, wo immer sie zu finden sind. So kann man anno 2000 ein experimentierfreudiges Album machen, das sich auf Pink Floyd und die Doors bezieht, aber weder auf der „backside of the moon“ noch im psychedelischen Reich des permanenten Exzesses verschwindet. „Binaural“ (bei Epic/Sony) ist rau und, vor allem was drum&bass betrifft, auf vertrackte Weise repetitiv, scheut vor Sound-Collagen-artigen Gimmicks nicht zurück und verdankt sich insgesamt weniger einem Authentizismus spontanen Selbstausdrucks als der überlegten Montage durchaus heterogener Elemente.

Auf „Binaural“ ist Pearl Jam eher eine komponierende als eine spielende Band: jede Bestandsaufnahme setzt Reflexion voraus, der Meta-Text muss das Material, das er verarbeitet, verdichten. So gibt es auf dem neuesten Pearl-Jam-Album, fast zehn Jahre nach dem 91er-Klassiker „Ten“, Grunge-Songs, die das Verschwinden von Grunge voraussetzen. Oder präziser: nicht das Verschwinden, sondern das Historisch-Werden eines Genres, das jetzt nicht mehr als einzig mögliches, gewissermaßen als kulturrevolutionäres und lebensreformatorisches Projekt, sondern als eine von vielen Möglichkeiten erscheint: aus dem Ernst des Anfangs wird das souveräne Spiel einer Spät-Zeit. Ähnliches passiert mit der Melancholie, die Eddie Vedders Songwriting immer schon charakterisierte. Sie löst sich nicht auf, wie es der PR-Text will (der sie offenbar für kaufmännisch nicht mehr nutzbar hält), sondern wechselt Ort und Status: war sie für die ganz jungen Männer, die, ohne Vergleich, dem Absolutismus der Gegenwart ausgeliefert waren und ihre spezifische Situation für eine naturnotwendige hielten, unausweichlich, so erscheint sie jetzt als politisch und sozial verursacht und damit zumindest im Prinzip als veränderbar. Eddie Vedder, der seinem Publikum auf der Bühne immer noch gern den Rücken zukehrt, spricht jetzt zumindest in den Songs mit ihm. Unschuld ist keine Tugend mehr, sondern etwas, das gebrochen werden muss. Der Single-Hit heißt, beinahe programmatisch, „Nothing as it Seems“: eine düster-suggestive Ballade, auf der Eddie Vedder eine Art Bestandsaufnahme betreibt; eine Inventur nicht nur seines, sondern aller Leben.

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