Rainer Dollase, Professor für Psychologie an der Universität Bielefeld, versuchte im Tagungsteil der Jahresversammlung des Landesmusikrates NRW in der Philharmonie Essen die Ängste vieler Zuhörer vor dem Schwinden der Bedeutung von Musik und musikalischer Bildung in unserer Gesellschaft zu zerstreuen. In seinem Referat „Die guten alten Zeiten sind vorbei – Musikalische Bildung im Visier der aktuellen Schul- und Bildungspolitik“ stellte er zunächst die Frage nach der Legitimation der musikalischen Hochkultur. Durch die Verschlechterung der ökonomischen Situation und das schlechte Abschneiden Deutschlands bei der PISA-Studie habe sich der Legitimationsdruck auf die Hochkultur verschärft. Dabei müsse bei musikalischer Bildung von einer „Multi-Effektivität“ ausgegangen werden, sozialisierende und erzieherische Effekte sowie Einflüsse auf die Funktionsfähigkeit des Gehirns (zum Beispiel „Mozart-Effekt“) seien wissenschaftlich belegt.
Der pessimistischen Einstellung, der Hochkultur wachse nicht genügend neues Publikum nach, stellte Dollase die These von der Nicht-Umkehrbarkeit der zivilisatorischen Evolution entgegen. Die Nachfrage von musikalischer Kultur sei stabil, da es sich um ein natürliches Bedürfnis handele, das nicht plötzlich wegbrechen könne. Das Konzertpublikum wachse nach, auch wenn es sich häufig erst in älteren Jahren dieser komplexen Art von Musik zuwende, weil sie eine längere Hörerfahrung voraussetze. Umfragen in der breiten Bevölkerung hätten zudem eine mehrheitliche Befürwortung der Subvention von Hochkultur ergeben.
Da die musikalische Kultur sich nicht Zufälligkeiten verdanke, stelle sie einen Wirtschaftsfaktor dar, mit dem man rechnen könne. Eine verstärkte politische Arbeit der Musikverbände sei notwendig, da Musikkulturen durch die Globalisierung verteilt und verlagert würden. Man solle sich daher auf die eigenen Stärken besinnen, auf Alleinstellungsmerkmale und mögliche Positionierungen im Markt. So habe man zum Beispiel versäumt, musikpädagogische „Exzellenzen“ international zu etablieren; die musikpädagogische Forschung in Deutschland sei nicht in den internationalen Datenbanken verschlagwortet und werde daher international nicht in ihrer herausragenden Bedeutung wahrgenommen.
Schelte gab es von Prof. Dollase für die NRW-Bildungspolitik. Pseudo-Modernität zerstöre Qualität. Für gute Leistungen der Schüler seien in erster Linie die pädagogische Kompetenz der Lehrer und transparente Leistungskriterien verantwortlich. Gelernt werde in erster Linie durch Beziehungen und die Bindung an die Lehrer. Hauptanliegen müssten daher begeisterungsfähige Musiklehrer sein, die Vorbild sein könnten. Nur guter Musikunterricht könne Akzeptanz erzeugen.
In der anschließenden Podiumsdiskussion, die von Theo Geißler moderiert wurde, gingen Prof. Dr. Rainer Dollase, Prof. Karl Karst (Programmchef von WDR 3), Christian Höppner (Generalsekretär des Deutschen Musikrates) sowie Prof. Dr. Werner Lohmann (Präsident des Landesmusikrates NRW) der Frage nach, inwieweit die Musik künftig „politischer“ werden müsse. Es wurde die Auffassung vertreten, dass die Musikverbände in der Vergangenheit vielmehr fachpolitisch als gesamtgesellschaftlich gedacht hätten, jetzt gelte es, in der Öffentlichkeit Bewusstsein zu schaffen. PISA sei insofern missverstanden worden, als daraus die Notwendigkeit abgeleitet worden sei, man müsse die Kernfächer stärken. Es solle vielmehr auf Musik als „Lebensmittel“ hingewiesen werden. Die große Diskrepanz zwischen Sonntagsreden und „Montagshandeln“ von Politikern wurde beklagt. Die Veranstaltung wurde im Rahmen der Kulturpartnerschaft des Landesmusikrates NRW mit dem WDR 3 aufgezeichnet und im Zusammenschnitt im „Kulturpolitischen Forum“ gesendet.