Ungeprobter Aufstand, Zurück ins „Land ohne Musik“, Farewell Symphony – Überschriften zu Englands einseitigem Ausstieg aus der europäischen Musikkultur mögen einem einige einfallen; Gründe hingegen nur wenige.
Denn obgleich die offiziösen Töne aus Whitehall mit Äußerungen wie „Erneut erobert britische Musik die Welt“ oder „Wir sind in außerordentlicher Weise die kreativste Nation auf dem Planeten“, denn obgleich die nahezu unverhohlenen Drohungen gegenüber europäischen Bürgern und der von der „Leave the EU“-Kampagne inspirierte Hass auf ausländische Kulturen – der sich jüngst in einer Schmierattacke auf das polnische Kulturzentrum entlud – den deutschen Leser auf unheimliche Weise an Goebbels‘sche Rhetorik erinnern mögen, so ist bereits jetzt die Phase nach dem „Endsieg“ hergestellt: keiner will es gewesen sein. Befürworter des Brexit in der Kultur- und Kreativwirtschaft sind da ebenso rar wie Argumente, warum es einem Musikleben in der selbst auferlegten Splendid Isolation besser gehen solle.
Ob es ihn denn nicht beunruhige, wenn seine Äußerungen zu Großbritannien als Führer der kreativen Welt auf deutsche Leser wie eine Verlautbarung von Goebbels wirken könne, will ich von dem konservativen Politiker John Whittingdale wissen, der beim Verfassen des Artikels noch, bei Drucklegung schon nicht mehr das Kulturministerium innehatte. Trotz Nachfrage war keine Stellungnahme zu erhalten. Von gedanklicher Tiefe ebenso unbelastet sind denn auch die Sachargumente dieses einzigen erkennbaren Pro-Brexit-Vertreters im Kulturbereich, der sich ausgerechnet Secretary of State for Culture nannte.
So war aus seinen vorab publik gewordenen Verlautbarungen zu vernehmen, was der EU-Austritt für die britische Musikindustrie zu bedeuten hätte: nämlich nichts. Und dass er sich „völlig sicher“ sei, dass britische Musik „auch weiterhin blühen werde“. Ideen, gar Visionen für das neue Zeitalter hatte Whittingdale auf unsere Nachfrage nicht, konkrete Zahlen zu den Vorteilen wollte er offensichtlich nicht nennen. Auch die vielen offenen Fragen zum Kultursponsoring angesichts des auf Talfahrt befindlichen Britischen Pfunds werden von ihm offenbar nicht wahrgenommen.
Dabei sind einige der vorher durchaus absehbaren Probleme in Folge des Brexit mit Händen zu greifen. Das Branchenmagazin „Music Week“ hatte vor dem Referendum eine lange Liste drohender Szenarien präsentiert. Horror-Stories kursieren da etwa im Live-Sektor, der auf die Zeit vor dem EU-Beitritt 1973 und dem jetzt üblichen Schengen-Visum zurückblickt: Da benötigte man Carnets für den zollfreien Grenzübergang von Instrumenten und jedem Einzelteil an Equipment, Visa für jeden Musiker und jeden einzelnen Grenzübertritt, dazu finanzielle Reserven – und wie heute die Einreise nach Russland zeige, müsse man dann trotzdem noch mit bis zu sechsstündigen Grenzabfertigungen rechnen. Zu viel jedenfalls um Tourplanungen auf der Basis knapper Reisezeiten zu kalkulieren, zu komplex vor allem für junge oder weniger bekannte Musiker als Robbie Williams, um überhaupt noch angefragt zu werden.
Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Zusätzliche Kosten für Visa und erhöhten Reiseaufwand, Steuererklärungen für jeden einzelnen Auftritt, Zoll und Mehrwertsteuer auf Merchandise, Rückgang beim Festivaltourismus nach Großbritannien, der Rückschlag für ein gemeinsames europäisches Copyright, Umsatzeinbußen für britische Labels außerhalb des gemeinsamen Marktes, die drohenden Handelsbeschränkungen. Dass das Arbeiten mit all diesen Auflagen funktionieren könne, so ein Argument des Leave-Lagers, zeige das Beispiel USA. Falsch, so Paul Pacifico, Geschäftsführer des Branchenverbandes Featured Artists Coalition: „nicht wegen, trotz der Hürden“ funktioniere es. So sei das Fazit für Europa: zu viele Risiken, zu wenige Chancen.
Erheblich mehr Gedanken machen sich auch die in Großbritannien tätigen Berufsmusiker mit EU-Pass, die sich auf einmal im englischen Nebel gefangen sehen. In einem Interview mit Burkhard Schäfer auf nmz-Online hatte Markus Däunert jüngst vor allem auf die kaum durch feste Verträge abgesicherten Freelancer in den Orchestern hingewiesen. Entsprechend groß ist hier die Nervosität: Da werden unsere persönlichen Anfragen an deutsche Musiker in einem der Londoner philharmonischen Orchester abgefangen, da taktiert die Mitarbeiterin der eingeschalteten PR-Agentur telefonisch, ich könne „mit denen nicht sprechen“. Schließlich bekomme ich ein Statement vom Intendanten Timothy Walker: „In der anhaltenden Debatte um die Auswirkungen des Brexit auf britische Orchester ist das London Philharmonic Orchestra zuversichtlich, jetzige und künftige Herausforderungen annehmen zu können.“ Aha. Auch hier folgen Bekenntnisse, zu den führenden Kultureinrichtungen in der Welt zu gehören und wunderbare Musiker aus der ganzen Welt zu haben. Letzteres ist anständig; für unanständig hingegen mag man es halten, kein Wort über die europäischen wunderbaren Musiker in diesem jetzt sehr veränderten Königreich zu verlieren. Europa, wird es als Thema weiterhin umgangen?
Eine klare Positionierung zu seinen europäischen Musikern kommt da vom London Symphony Orchestra; aber sonst scheint in der Musikbranche vor allem der Ärger zu überwiegen, dass die Regierung keine klaren Fakten vorgibt, dass Unsicherheiten jeder Art schlecht fürs Geschäft sind.
Herumnavigieren kennzeichnet denn auch die meisten Reaktionen aus der Kultur. Mit durchaus klaren 96 Prozent, so der Branchenverband Creative Industries Federation, hätten sich die Mitglieder vor dem Referendum für einen Verbleib in der EU ausgesprochen, nur vier Prozent wären auf der Seite von Kulturminister Whittingdale. Man hat einiges zu verlieren: In den Jahren 2013–14 brachte die Kreativwirtschaft nach Informationen der CIF 84,1 Milliarden Pfund in die englische Wirtschaft ein, und die EU ist dabei mit 57 Prozent größter Exportmarkt. Diese seltsame Diskrepanz zwischen Ministerium und vertretenem Sektor – man könnte auch von fehlender Vertrauensbasis sprechen – mag jener auf meine wiederholte Anfrage hin natürlich auch nicht kommentieren. Nach dem Referendum zeugen so manche Prioritäten in der Kulturbranche denn von einem prekären Mangel an Realismus – und Idealismus: Wie man etwa trotz des Brexit weiterhin an EU-Fördermittel aus dem Projekt „Creative Europe“ herankommen könne, will da der Vorsitzende der National Campaign for the Arts, Sam West, wissen. Fast schon grotesk weltfremd mag das aus deutscher Sicht wirken. Dass die Engländer das so nicht wahrnehmen, zeigt, wie gravierend die Defizite in Sachen Europa sind. Man hätte es vor dem Referendum sehen müssen. Das hätte den Willen vorausgesetzt, es sehen zu wollen.
„Diversity“ ist dabei durchaus ein Thema in der britischen Kulturförderung – so lange sie erkennbar ist: Für alle Formen ethnischer Selbstklassifizierung kennen Personalbögen oder Publikumsumfragen eine Kategorie der Schützenswürdigkeit – nur „White“ ist scheinbar allen gleich. Die in der Woche vor und der Woche nach dem Referendum um 42 Prozent angestiegenen ausländerfeindlichen Straftaten, gegen Polen, Portugiesen und Rumänen – sie zeigen eine andere Realität, die der kulturell nicht anerkannten Minderheiten. Dabei hat der Arts Council England erhebliche Summen investiert, um die Kultur- und Kreativwirtschaft „diverser“ werden zu lassen. Hat man dabei vielleicht „gute“ – sprich: sichtbare – Minderheiten gegenüber „unerwünschten“ bevorzugt? Hat eine verfehlte Kulturpolitik diese Gewalt mit zu verantworten? So würde der Arts Council England das sicher nicht wahrhaben wollen: Äußern mag sich auch diese Pressestelle trotz wiederholter Anfrage nicht.
Selbstbezogenheit, Herumnavigieren, Abwiegeln – ein Grundakkord scheint sich da aus dem Nebel, der den Brexit umgibt, herauszulösen. Doch halt, eine schaut mit Zweckoptimismus in die Zukunft: Christine Brown von der Stiftung für in Not geratene Musiker, Help Musicians UK, sieht durch die vom Brexit verursachte Rezession neue Herausforderungen auf sich zukommen. So sehr man Help Musicians UK einen Aufwärtstrend gönnt: Für das Wachstum in der Musikbranche hätte man sich eine andere Form gewünscht.