Hauptbild
Paul Lincke, die «Berliner Luft» und die Hitler-Zeit. Foto: Buchcover
Paul Lincke, die «Berliner Luft» und die Hitler-Zeit. Foto: Buchcover
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Paul Lincke, die «Berliner Luft» und die Hitler-Zeit

Publikationsdatum
Body

Berlin - Paul Lincke dirigiert mitten im Zweiten Krieg in Berlin ein Potpourri seiner populären Melodien («Berliner Luft») und «alles singt mit und rast vor Freude», wie sich der Komponist erinnerte. «Kinder, setzt euch wieder, es kommt noch was!», rief Lincke dem Publikum zu. Es kam sogar ziemlich dicke für die Reichshauptstadt im Bombenhagel der nächsten Jahre, vor dem Lincke schließlich nach Marienbad flüchtete, bevor auch sein Wohnhaus und sein Musikverlag in der Kreuzberger Oranienstraße in Schutt und Asche fiel.

Dabei hatte der erfolgreiche und populäre Komponist der Kaiserzeit mit «Frau Luna» und dem «Glühwürmchen-Idyll», dessen Ruhm bereits langsam verblasste, lange versucht, auch mit den NS-Machthabern gut auszukommen, von denen er zwar nicht gerade verehrt (weil ja eigentlich «von gestern»), aber doch hofiert wurde. Sie benötigten immerhin jeden prominenten Künstler für ihr Renommee im In- und Ausland, sofern sie nicht wie Heinrich und Thomas Mann ins Exil gegangen waren.

Eine neue Biografie enthält zur Rolle Linckes in der NS-Zeit auch teilweise bisher unveröffentlichte Dokumente («Paul Lincke - Sein Leben in Bildern und Dokumenten», Schott Verlag). Der Autor Jan Kutscher meint, zwar sei Lincke in der NS-Zeit bemüht gewesen, «im Geschäft zu bleiben», was sich auch durchaus finanziell auszahlte, er habe jedoch nur wenige Gefälligkeitskompositionen für die Nazis geschrieben («Deutschland muss siegen!») und sei auch von tieferen Verstrickungen verschont geblieben, was auch an seinem geringen politischen Interesse gelegen haben mag.

Lincke habe sich aber wie die meisten deutschen Künstler verhalten, die nicht emigrierten und sich mit dem NS-Regime auf die eine oder andere Weise zu arrangieren versuchten. «In dem vergangenen Jahrzehnt...hat er sich manchmal von den regierenden Herren allzu sehr feiern lassen», hieß es im Nachruf der «Berliner Zeitung» vom 7. September 1946, als Lincke kurz vor seinem 80. Geburtstag in Hahnenklee im Harz gestorben war.

Auch in Kutschers Biografie heißt es resümierend, Lincke lasse sich in diesem Zusammenhang als ein «ausgesprochen typischer Vertreter seines Berufsstandes» einstufen, «der die Nähe zu den Mächtigen suchte, um seine Popularität zu beflügeln, ohne sich von ihnen spätestens dann wieder zu distanzieren, als auch weniger politisch versierte Menschen die Grausamkeit des NS-Staates...längst hätten erkennen können, vor allem aber hätten erkennen wollen». Vielmehr genoss Lincke die Rolle des ihm zugedachten Altmeisters der Unterhaltungsmusik.

NS-Propagandaminister Joseph Goebbels veranlasste eine «Ehrengabe» der Reichshauptstadt für Lincke in Höhe von 10 000 Mark mit den Worten «Der hat's verdient um Berlin!». Das Goebbels-Foto in Linckes Arbeitszimmer trug die Widmung «dem Mann, der Berlin musikalisch entdeckte». Mit dem NS-Kulturfunktionär und späteren Reichsfilmintendanten Hans Hinkel verband Lincke «echte Freundschaft», wie der Komponist betonte, sie duzten sich («Lieber Paule» schrieb Hinkel). Laut einem Vermerk der britischen Besatzungsbehörden stand Lincke «nach unseren Akten offensichtlich in engem vertraulichen Verhältnis mit Hinkel und in freundschaftlichem Verhältnis mit Dr. Goebbels und seiner Frau».

Die Judenverfolgung im Dritten Reich ignorierte Lincke offensichtlich, von dem öffentliche antisemitische Äußerungen aber auch nicht überliefert sind. Einmal notierte er bei einem Aufenthalt in einem Prominenten-Sanatorium in Dresdens bester Lage lakonisch: «Hier ist alles beim Alten - die Juden mussten alle weg», leider sei auch «unser Rommé-Partner...verschwunden». Aber Frau Goebbels sei auch im Sanatorium und habe sich «sehr gefreut», Lincke zu sehen, wie er betonte.

Nach Kriegsende rechtfertigte sich Lincke in einem Schreiben an den «Politischen Prüfungsausschuss» in der «Kammer der Kulturschaffenden» in Berlin im April 1946, also ein halbes Jahr vor seinem Tod, er habe sich nie politisch betätigt. Er sei auch nie Parteimitglied gewesen und habe «diesbezügliche Aufforderungen immer abgelehnt». Seine Kompositionen würden seit über 60 Jahren «gespielt, gesungen und meine Operetten in allen Theatern aufgeführt, weil die große Masse die Stücke immer wieder hören möchte». Und «fast das ganze Ausland führte meine Werke auf», dadurch seien «dem Deutschen Reich sehr viel Devisen zugeflossen».

Es half nichts, er blieb auf der Schwarzen Liste der Besatzungsbehörden bis zu seinem Tod im September 1946. Nichtsdestotrotz soll der britische Kommandant die Flagge auf halbmast gesetzt haben, als der Trauerzug zum Friedhof in Hahnenklee im Harz an der Kommandantur vorbeizog.

Neben diesen bisher zum Teil unveröffentlichten Dokumenten aus der NS-Zeit entwirft Autor Kutscher ein umfassendes und differenziertes Lebensbild dieses urpreußischen Komponisten mit zahlreichen Abbildungen von den Anfängen über die frühen Triumphe bis zur unmittelbaren Nachkriegszeit.

Deutlich wird auch, welche Impulse Lincke für die weitere Entwicklung von Revue und Musikfilm gegeben hat und welche wichtige Rolle er beim Urheberrecht für Komponisten und Textdichter gespielt hat. Und mit Linckes Werken habe das Wesen Berlins zum ersten Mal seinen musikalischen Ausdruck gefunden, wie manche meinten - lokalpatriotisch, aber oft nicht ohne ironische Anklänge («Donnerwetter, tadellos!»).

Viele seiner Lieder wurden wahre Ohrwürmer wie zum Beispiel «Schlösser, die im Monde liegen», «Wenn auch die Jahre enteilen» und «Lasst den Kopf nicht hängen». Und seine «Berliner Luft» sei ursprünglich nicht nur Ausdruck des Lokalpatriotismus gewesen, wie der Musikwissenschaftler Albrecht Dümling im Vorwort des Buches schreibt, «sondern auch eine ironische Kritik an arroganten Hauptstadt-Bewohnern». «Berliner Luft» wird immer noch alljährlich von den Berliner Philharmonikern bei ihrem Sommerkonzert in der Waldbühne gespielt.

Musikgenre