„Durch den Sparbeschluss des SWR-Rundfunkrates akut von der Abwicklung bedroht, wurde dieses Ausnahmeorchester erst vor kurzem in die Rote Liste des Deutschen Kulturrates aufgenommen und in die ‚Kategorie Eins‘ des erhaltenswerten Erbes eingestuft.“
„Gegründet 1946, hat dieses führende Rundfunkorchester unter seinen Chefdirigenten Hans Rosbaud, Ernest Bour, Michael Gielen, Sylvain Cambreling und aktuell François-Xavier Roth eine außerordentliche Neugier und kreative Offenheit speziell für zeitgenössisches Komponieren entwickelt und bewahrt. Diese Pionierarbeit am Puls der Gegenwart ist, in der Zusammenarbeit mit den Donaueschinger Musiktagen, zu einem Markenzeichen des Orchesters geworden. Eine Spezialisierung, die zugleich, flankiert und kontrapunktiert durch die intensive Auseinandersetzung mit dem gängigen klassisch-romantischen Konzertrepertoire, zur Ausbildung eines speziellen Klangbildes geführt hat, einzigartig und unverwechselbar in seiner Transparenz und Genauigkeit – wie in Dutzenden von mehrfach ausgezeichneten Tonaufzeichnungen dokumentiert. Das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg muss bleiben!“
So lautet die Begründung der Jury des „Preises der Deutschen Schallplattenkritik“ für das Jahr 2013. Das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg erhält den so genannten „Ehrenpreis“, nicht zu verwechseln mit den Jahrespreisen oder der regelmäßig veröffentlichten Vierteljahresliste. Die Auszeichnung, verliehen von Musikkritikern großer Zeitungen und wichtiger Fachzeitschriften, die gemeinhin einen kompetenten Überblick über das internationale Musikleben haben, ehrt das Baden-Baden/Freiburger-Orchester in einer existentiellen Notlage. Die von Intendanz und Hörfunkdirektion des Senders in die Wege geleitete Fusion mit dem Stuttgarter Radio-Sinfonieorchester wird beide Klangkörper in ihrer künstlerischen Eigenart und spezifischen Qualität auslöschen. Das dafür entstehende „neue“ Orchester, ein großes Ensemble mit bis zu 115 Musikern, geistert als „Weltorchester“ in der Intendantenfantasie herum. Ob diese Zahl Bestand haben wird, bleibt abzuwarten, unmerkliches Schrumpfen gehört zur Taktik. Letztlich wären auch 102 genügend, die derzeitige Stärke des Stuttgarter Orchesters. Dann hätte man quantitativ das komplette Baden-Baden/Freiburg-Orchester weggespart.
Generalmanager Bultmann
Die neue musikzeitung hat in der zurückliegenden Zeit immer wieder auf die Fragwürdigkeit der Fusion hingewiesen. Überhaupt hat es in der ganzen Musikwelt keine Stimme gegeben, die diese Fusion begrüßt hätte. Im Gegenteil: sogar die Berliner Philharmoniker, denen man wohl die Kompetenz nicht absprechen kann, wiesen darauf hin, dass kein einziges der großen renommierten Orchester aus einer Fusion hervorgegangen ist. Die SWR-Intendanz sieht das natürlich anders, weil sie auf ihrer Uneinsichtigkeit beharrt. Seitdem sie die Zustimmung ihres Rundfunkrates zur Fusion mehrheitlich erhalten hat, agiert sie völlig enthemmt. Mit verdächtiger Eile engagierte sie eine Art Generalmanager, der die Fusion der Orchester ab sofort vorbereiten soll. Aber nicht nur das: er wird auch die Oberhoheit über das neue Orchester erhalten, außerdem über das SWR-Vokalensemble, die SWR-Festivals in Donaueschingen und Schwetzingen – vom „Éclat“-Festival in Stuttgart spricht man überhaupt bisher noch nicht, wird es vielleicht mit dem baldigen Ausscheiden Hans-Peter Jahns eingestellt? Man ist inzwischen auf alles gefasst, auch auf den größten Unfug.
Einen solchen Unsinn darf man in der Verpflichtung des oben genannten Generalmangers sehen: Johannes Bultmanns Name tauchte in der breiteren Musiköffentlichkeit auf, als die Stadt Essen einen Nachfolger für ihren geschassten Philharmonie-Intendanten Michael Kaufmann brauchte. Kaufmann war sicher kein bequemer Partner, aber er verlieh mit seinen Programmen der Essener Philharmonie ein überregional beachtetes Profil.
Vielleicht zu viel Profil für eine Stadt, die trotz ihrer großen Einwohnerzahl geistig wie ein Provinznest erscheint, vor allem politisch. Johannes Bultmann, inzwischen 52 Jahre alt und vorher zehn Jahre am Festspielhaus in Baden-Baden tätig (nicht als Intendant!), soll es jetzt in Stuttgart richten. Er gibt schon flotte Interviews in Tageszeitungen, und alles was er da äußert, klingt nach „His Master‘s Voice“. Das hat man alles schon von SWR-Intendant Peter Boudgoust und seinem einstigen Hörfunkdirektor Bernhard Herrmann gehört. „Mittelmaß interessiert mich nicht“, äußerte Bultmann in einem Interview. Das ist verständlich. Dann müsste er ja sich selbst erkennen, und die Leidtragenden sind ohnehin die Musiker im fusionierten Orchester.
In Essen jedenfalls ist seit Michael Kaufmanns Abgang wenig Aufregendes geschehen, es sei denn, man misst der Gründung des Festivals „NOW!“ mit den üblichen Verdächtigen der gemäßigten Neuen Musik größere Bedeutung bei. Und die Vorstellung, dass ein ehemaliger Konzerthausarrangeur demnächst über die Musiktage in Donaueschingen, Schwetzingen oder Stuttgart thront, flößt einem die pure Furcht ein. Etwas mehr ästhetische Kenntnisse über das, was in der Neuen Musik geschieht, über kompositorische Qualitäten, über geschichtliche Voraussetzungen, etwas mehr Vorausahnung künftiger Entwicklungen sollten den Leiter eines Avantgardefestival schon auszeichnen. Für die verdienten „Chefs“ der SWR-Festivals muss die Inthronisierung des Oberaufsehers Bultmann als Provokation empfunden werden.
Damit wäre man beim Thema Menschenführung. Intendant Boudgoust hat sich inzwischen so in seine Fusionsvisionen verrannt, dass er für eine Revision seiner Planungen nicht mehr ansprechbar ist. „Sag, Cäsar will nicht, das genügt“, so heißt es einmal in Shakespeares Drama. Da helfen auch demonstrative Beifallskundgebungen wie in einem Konzert des SWR-Baden-Baden/Freiburg nicht mehr – Applaus als Protestmarsch.
Maulkorberlasse
Immer wieder dringen aus den Funkhäusern in Baden-Baden oder Stuttgart Meldungen nach außen, wohin diese eigentlich nicht gehören: Maßregelungen nach unliebsamen Bemerkungen von Mitarbeitern, Maulkorberlasse, versteckte Androhungen. Wer die Fusion nicht bejubelt, macht sich verdächtig. Da passieren dann auch Merkwürdigkeiten wie diese: Ein Beitrag mit kritischen Tönen zur Fusion in der 3sat-„Kulturzeit“ ist anschließend in der Online-Mediathek gar nicht und dann für kurze Zeit nur in einer entsprechend „redigierten“ Version verfügbar …*
Die Leporello-Liste ist schon ziemlich lang, und so erhebt sich die Frage, ob die Orchesterfusion überhaupt noch die erste Frage ist. Diese könnte lauten: Ist dieser Intendant überhaupt noch geeignet, eine große und wichtige Sendeanstalt verantwortlich zu führen? In der nmz (Ausgabe 7/8-2012) hat Theo Geißler im Zusammenhang mit der Orchesterfusion über die „Anforderungen an einen öffentlich-rechtlichen Chef“ einige Grundsätze formuliert. Dass Peter Boudgoust, der aus der Finanzabteilung des Senders zum Intendanten aufgestiegen ist, diesen Anforderungen nur bedingt genügt, beweist die Behandlung seiner beiden Orchester. Die Stuttgarter Musiker scheinen sich schon mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben, wohl weil sie in ihrem Häusle weiterwohnen können. Der Opportunismus und die Feigheit eines Kollektivs sind ein allzu bekanntes Phänomen.
Das Wichtigste aber ist der Erhalt des Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg. Dieses Orchester ist unter und mit ihren Chefdirigenten zu einem Kunstgegenstand eigener Prägung gewachsen, unverzichtbar für die kompetente Darstellung neuer und neuester Musik.
Wer soll denn ein neues Orchesterwerk eines Brian Ferneyhough oder das neu gebaute Orchesterstück eines Helmut Lachenmann adäquat realisieren? Das Baden-Baden/Freiburg-Orchester besitzt dafür nicht nur die technischen Fertigkeiten (die hätten notfalls auch noch die Berliner Philharmoniker), sondern – und das ist vielleicht das Entscheidende: den Enthusiasmus, die gemeinsame Begeisterung für eine Musik, die in die Zukunft weist und die Geschichte der Musik fortschreibt. Wer das nicht erkennt ist entweder taub, blind, dumm, sturköpfig oder ein Ignorant. Oder alles zusammen. Es muss doch eine Möglichkeit geben, dem Treiben im Südwestrundfunk juristische Zügel anzulegen, auch im Wege einer analogen Auslegung bestehender Regeln? Kein Museumsdirektor kann seine Galerie einfach so auflösen und ins Museum nebenan verlegen. Eine Gemäldegalerie stellt ein kunstvoll komponiertes Ensemble dar, mit vielen Beziehungen zwischen den Bildern und erhellenden Durchblicken. Auch ein sinfonisches Orchester ist so „komponiert“, gewachsen in langen Jahren.
Die Musiker kennen sich, hören aufeinander, stellen auch ohne Anweisungen des Dirigenten Klangbalancen her, entwickeln eine spezifische Reaktionsschnelligkeit und Geschmeidigkeit des Spiels. Dieses „Kunstwerk Orchester“ ist ebenso schützenswert wie ein historisch wertvolles Gebäude, ein städtisches Panorama, eine markante Flusslandschaft. Man müsste die besten Orchester als „Kunstwerke“ in die Liste des Weltkulturerbes der Unesco aufnehmen. Der Ehrenpreis der deutschen Schallplattenkritik wäre geeignet, die Initiative anzustoßen.
* Hierzu erreichte uns von der Pressestelle von 3sat ein Schreiben folgenden Inhalts: „Bezugnehmend auf den Artikel ‚Preislied auf ein bedrohtes Kunstwerk‘ in der aktuellen Ausgabe der NMZ, möchte ich Sie gerne darauf aufmerksam machen, dass der von Ihnen genannte Beitrag über die SWR Orchesterfusion in der ‚Kulturzeit‘ vom 14. Dezember 2012 nicht-rechtefreies Archivmaterial enthielt. Aus diesem Grund war er ausschließlich am Sendetag im täglichen Livestream der ‚Kulturzeit‘ in der 3sat-Mediathek zu sehen. Darüber hinaus war er nie als Abruf-Stream in der 3sat-Mediathek eingestellt.“