Minsk - Musikstars haben sich auf die Seite der Proteste in Belarus geschlagen - und verlieren nun fette Honorare. Mit emotionalen Videos und Protestsongs prägen sie den Klang der Revolution. Die Naviband etwa erzählt, wie es dazu kam.
Ihre Gigs bei den Protesten gegen Europas «letzte Diktatur» in Belarus (Weißrussland) müssen die Musiker Artjom und Xenia von der Naviband in Minsk im Ernstfall mit Gefängnis bezahlen. Deshalb treten sie spontan und nach Bauchgefühl auf, wie sie bei einem Treffen erzählen. «Jeder hier tut jetzt, was er kann: die einen bringen Wasser, die anderen spenden für Bedürftige, und wir singen», sagt die 27-jährige Xenia Schuk.
Noch vor drei Jahren trat das Paar vor Millionenpublikum im Finale des Eurovision Song Contest in Kiew auf und schnitt besser als Deutschland (Platz 25) ab. Jahre mit Gute-Laune-Folk-Songs und dicken Honoraren bei Unterhaltungsshows im belarussischen Staatsfernsehen folgten. Aber nun ist alles anders. In Belarus ist Revolution.
«Die Gewalt hat alles geändert», sagt Artjom Lukjanenko. Der 28-Jährige erzählt, dass ihn schockiert habe, mit welcher Brutalität maskierte Uniformierte Menschen wahllos auf der Straße gefasst und abtransportiert hätten. «Freunde von uns sind plötzlich im Gefängnis gelandet. Dann kamen die Bilder in den sozialen Netzwerken von den Prügelattacken auf völlig Schutzlose», sagt er bei einem Treffen im Minsker Szeneviertel «Ok 16» an der Oktjabrskaja-Straße, einem Ort, der auch in Berlin sein könnte. «Wir lieben Berlin», sagt Artjom.
Hier kommen viele hippe Belarussen zusammen, die nur einen Teil der bunten Protestbewegung in der früheren Sowjetrepublik ausmachen. Das Duo Naviband sieht sich umjubelt bei Straßenaktionen - etwa bei einem spontanen Auftritt am Rande von Protesten vor dem Komarowski-Markt in Minsk. Artjom spielt Gitarre, Xenia singt. Gerade erst hat sie zudem einen eigenen Song geschrieben. «Mädchen in Weiß» heißt er übersetzt.
Weiß ist die Farbe der demokratischen Bewegung, besonders viele Frauen zeigen sich in weißen Kleidern oder mit weißen Blumen in der Hand. Xenia verarbeitet in ihrem Song, wie eine Bekannte - «sie ist so klein und zerbrechlich» - von starken Sicherheitskräften gefasst und 15 Tage eingesperrt wurde. «Das passiert mitten in Europa.»
Wie Naviband sind viele Musiker elektrisiert durch die Aufbruchsstimmung in dem kleinen Land, das mehr als neun Millionen Einwohner hat und zwischen EU-Mitglied Polen und Russland liegt. Die große Mehrheit wendet sich ab von dem umstrittenen Präsidenten Alexander Lukaschenko, der seit 26 Jahren mit harter Hand regiert.
Es gibt mittlerweile ganze Hitparaden mit Protestsongs und Videoclips - von Superstars, darunter der Rapper Max Korsch, der etwa singt: «Freiheit ist teurer als Gold». Mit dabei sind auch der Hip-Hop-Sänger Tima Belorusskih, die Gruppe Nemiga und Rita Dakota.
Sie alle verarbeiten künstlerisch ihre Eindrücke von der Polizeigewalt, vom Blut auf dem Asphalt. Ihre Liedzeilen werden zu Slogans auf den Protestplakaten für die Straßen. Aber nicht alle treten wie Naviband auch bei den Aktionen auf.
Besonders oft gespielt wird immer wieder der große Klassiker: «Peremen» - zu Deutsch: «Veränderung» - von Kultrocker Viktor Zoi aus der sowjetischen Wendezeit in den 1980ern. Als zwei DJs noch vor der Präsidentenwahl bei einer Kundgebung für Lukaschenko den in Belarus verbotenen Song auflegten, rockten alle vermeintlichen Unterstützer des Präsidenten mit. Sicherheitskräfte schritten ein. Die beiden jungen Männer, Kirill Galanow und Wlad Sokolowski, flohen ins Ausland. Sie werden seither als Helden verehrt auf einem von der Bürgerbewegung neu getauften Protestplatz mit dem Namen «Peremen».
«Die Musik ist eine wichtige Unterstützung, sie trägt die Proteste auf der Straße. Sie reißt die Menschen mit, schützt vor Depression und gibt so ein erhebendes Gefühl», sagt Xenia. «Es geht hier nicht um Politik, sondern um das ganz normale Leben, um Würde», meint Artjom. Die Menschen seien tief enttäuscht, weil ihnen bei der Präsidentenwahl am 9. August die Stimme gestohlen worden sei und sich Lukaschenko zum Sieger erklärt habe. «Die Mehrheit sind wir.»
Aber aus Sicht des Duos passiert noch viel mehr: Belarus entstehe als selbstbewusste Nation gerade neu. Xenia etwa singt auf Belorussisch, das lange zurückgedrängt wurde zugunsten der zweiten Landessprache Russisch. «Ich bin stolz, auf der Straße zu sehen, wie viele kreative Leute wir haben», sagt sie. Lukaschenko hatte die Bürger als Ratten, Drogenabhängige und Prostituierte bezeichnet. «Er begreift nicht, was passiert, während sich die Menschen durch das Internet mit hoher Geschwindigkeit informieren und organisieren.»
Xenia und Artjom haben einen kleinen Sohn. «Wir müssen deshalb vorsichtig sein, dass wir nicht gefasst werden», sagt sie. Und ja, sie habe Angst. «Niemand weiß, was kommt.» Artjom erzählt, dass viele von ihren Freunden schon das Land verlassen hätten, um in Freiheit zu leben. Aber die beiden sind überzeugt, dass die Veränderungen schon nicht mehr zurückzudrängen sind. Sie wollen bleiben. «Das hier ist unsere Erde, die uns Energie gibt, wir lieben die Seen und Wälder - und wir können nicht alle gehen, nur weil ein Mann bleiben will», sagt sie. «Wir müssen bis zum Ende gehen.»