Kabul - In Afghanistan erstarken die religiösen Extremisten - und verbieten auch die Musik. Aber in Kabul macht ein Mann eine Musikschule zum Vorzeigeprojekt. Bald spielen seine Studenten in Berlin. Am 2. Dezember beginnen im Deutschen Historischen Museum die Afghanischen Kulturwochen.
Vor etwas mehr als einem Jahr explodierte eine Bombe neben Ahmad Naser Sarmast. Monatelang konnte er kaum hören. Musik klang chronisch verzerrt in seinen Ohren. Wenn seine Studenten das Piano spielten, die Flöte oder die Rhubab, das klassische afghanische Saiteninstrument, dann konnte er nicht helfen. Sarmast ist der Gründer und Direktor des Afghanischen National-Instituts für Musik. Die Bombe, die ihn verletzte, war gegen eine Theateraufführung in einem Kulturzentrum gerichtet gewesen. Die Künste sind ein heikles Thema in Afghanistan, wo die Taliban einst Musik und Theater verboten hatten und wo sie es so langsam schaffen, in vielen Distrikten ihre strikten Ansichten wieder durchzusetzen.
Direktor Sarmast hat sich nicht abschrecken lassen. Heute hat er 90 Prozent seines Hörvermögens wieder. Nur durch eine Operation muss er noch durch. Aber nach der Deutschlandreise. Am 2. Dezember spielen Studenten und Lehrer aus seiner Schule bei der Afghanischen Kulturwoche im Deutschen Historischen Museum.
Deutschland und Afghanistan feiern in diesem Jahr das 100-jährige Bestehen ihrer Beziehungen, und das Konzert markiert den Beginn der Kulturwoche, die in Berlin mit einer Vielzahl von Veranstaltungen gefeiert wird: mit zwei Fotoausstellungen, einem Symposium, einem Filmfestival, sogar einer Clubnacht.
Afghanische Volkslieder, aber auch ein Stück von Franz Liszt werden die afghanischen Kinder und ihre Lehrer spielen. Das Konzert ist eine Ko-Produktion mit Musikern der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar; seit vier Jahren arbeiten die beiden Schulen schon zusammen. Ahmad Sarmast hatte die Kollegen vom Lehrstuhl für Transkulturelle Musikforschung auf einem Kongress getroffen, «und es hat uns sehr beeindruckt, was der Herr Sarmast da in Afghanistan unter so schwierigen Bedingungen aufbaut», sagt der Weimarer Lehrstuhlleiter de Oliveira Pinto. «Er hat dort mittlerweile ein ganzes Symphonieorchester, mit Geigen, Bratschen, Celli und so weiter, aber er lehrt eben auch die traditionelle Musik. Das ist durchaus nicht üblich in den Konservatorien Asiens. Dort rümpfen sie ja oft die Nase über die eigene Musikkultur. Kabul ist da sehr fortschrittlich.»
Das National-Institut sei nicht nur eine von ganz wenigen Einrichtungen, die in Afghanistan Musik unterrichteten - es sei auch am professionellsten. Weimar hilft Kabul nun vor allem beim Aufbau des akademischen Curriculums, zum Beispiel eines Kurs zur Erforschung und Dokumentation traditioneller Musik.
Eine Erfolgsgeschichte im an Erfolgsgeschichten armen Afghanistan - wie sieht so etwas nun aus? Zumindest nicht nach viel Geld. 170 Kinder im Alter von 10 bis 20 Jahren studieren hier in einem alten zweistöckigen Gebäude im Westen Kabuls, finanziert von der Weltbank, ein wenig auch von der deutschen Regierung. Der Wächter am Eingang nimmt Besuchern das Handy ab. Aber nicht, wie in den Botschaften oder UN-Büros der Stadt, um eine funkgesteuerte Bombenattacke zu verhindern, sondern weil das Klingeln die Musiker nicht stören soll.
Studenten wandern mit Instrumenten über die Flure, einer singt lauthals heraus. Ein kleines Mädchen beschwert sich, dass ein Junge ihr Cello verstimmt habe, und in irgendeinem Winkel der Schule spielt jemand Gitarre.
Jedes Kind darf sich im zweiten Jahr zwei Instrumente aussuchen: ein herkömmliches wie das Klavier oder die Geige, und ein afghanisches wie die Rhubab oder die Dol, die Trommeln. Erstere werden von internationalen Lehrern unterrichtet, die als Freiwillige herkommen oder von Partnerinstituten geschickt werden. Die traditionellen Musikklassen halten afghanische Meister. Zehn Jahre dauert so ein Studium an Direktor Sarmasts Schule. Der erste Lehrgang von Jugendlichen, der 2010 angefangen hat, ist also noch längst nicht fertig.
In den vergangenen Jahren haben sie aber immer öfter Konzerte gegeben - in Afghanistan, aber auch im Ausland, zum Beispiel im renommierten Kennedy Center in Washington und in «mindestens 20 anderen Ländern», sagt Direktor Sarmast. Er ist ein kleiner Herr mit einem Schnurrbart und leiser Stimme. Seine Hände beschreiben Kreise, wenn er spricht, wie beim Dirigieren. «Jede unserer Touren ist eine Mission für uns», sagt er, «und diese Mission ist zu zeigen, dass es positive Veränderungen in Afghanistan gab!»
Dass das aber so einfach nicht ist und die positiven Veränderungen gerade stark in Gefahr sind, zeigt sich schon daran, dass die Kinder und ihre Meisterlehrer wohl unter den wenigen Afghanen sind, die mit Visum nach Deutschland einreisen. Viele Afghanen flüchten dieser Tage Richtung Europa. Sie fliehen vor Kämpfen in mindestens zehn Provinzen und aus einem Land, das zunehmend weniger in der Lage ist, Ernährung, Bildung und medizinische Versorgung seiner Bürger sicherzustellen. Afghanen sind mittlerweile eine der größten Gruppen derer, die als Flüchtlinge in Deutschland ankommen.
Sarmast selbst könnte in Australien leben. Er hat ein Visum, weil er dort seinen Doktor der Musikwissenschaften gemacht hat. Nach der Bombe hatte er seine Ohren in Australien operieren lassen. Aber dann ist er zurückgekommen. «Ich fühle mich meiner Kultur gegenüber verpflichtet», sagt er.
Der Sohn eines bekannten afghanischen Musikers wird auch der «Retter der afghanischen Musik» genannt. Als er 2008 begann, Mittel für die Musikakademie zu sammeln, hatte der milliardenschwere internationale Aufbau Afghanistans Kultur fast völlig übersehen. Musik machen - was für ein Luxus in einem Land, in dem immer noch Millionen Kinder nicht mal Lesen und Schreiben lernen, sagten die Skeptiker, wenn Ahmad Sarmast um Geld bat. Das traditionelle Handwerk, die Dichtkunst, die Musik: nur sehr wenige Organisationen kümmern sich - bis heute - darum, auch diesen Teil Afghanistans wiederzubeleben.
Dabei gäbe es da viel zu retten. Afghanistan gehört zum persischen Kulturkreis. Der ist multikulturell und hat eine reiche Geschichte der Dichtkunst und Musik. In der traditionell bildungsbeflissenen west-afghanischen Stadt Herat gibt es ein Sprichwort, demzufolge man nur ein Bein ausstrecken muss, um einen Dichter oder Musiker zu treten. Aber mehr als drei Jahrzehnte Krieg hatten die afghanischen Künstler fast verschwinden lassen. Viele waren ins Exil gegangen. Erst Sarmasts Projekt hat einige von ihnen zurückgebracht, als Lehrer an seine Akademie. «Musik ist kein Luxus», sagt er. «Sie ist ein Bedürfnis. Sie ist ein Werkzeug, das Verbindungen zwischen Menschen schafft. Und sie heilt die Seele.»
Manchmal aber bedroht sie auch das Leben. Nach der Bombe im Theater im vergangenen Jahr hat auch die Musikakademie Drohungen bekommen. Die Künste waren auf einmal im Fokus der Extremisten; auch Fernsehschauspieler bekamen Drohungen. Sarmast musste die Polizei um Schutz für seine Musikschule bitten. Und es wird nicht besser. Aus den afghanischen Provinzen kommen jetzt öfter Geschichten von Taliban, die das Musizieren und Tanzen verbieten, weil sie das unislamisch finden. «Ich habe aber keine Angst», sagt der Direktor fast trotzig. Und auch die Zahl seiner Studenten ist nicht zurückgegangen. Die Kinder, die hier studieren, wollen mit aller Macht Musik machen. Darunter sind auch viele Mädchen, was untypisch ist.
Es sind Mädchen wie die elfjährige Tarranum. Auf einem Rundgang öffnet Direktor Sarmast die Tür zu dem Raum, in dem sie gerade Klavierspielen übt. Sarmast hört kurz zu und zeigt ihr, was sie besser machen kann. Tarranum kommt aus Herat. Ihre Eltern haben sich für sie gefreut, als sie an der Akademie aufgenommen wurde. Eine andere Studentin, die 18-jährige Negin Khapalwak, ist schon so etwas wie ein Star. Sie ist die erste weibliche Dirigentin des Landes und leitet ein Orchester von 40 Mädchen. Negins Eltern waren allerdings dagegen, dass sie ihre Familie verließ, um Musik in Kabul zu studieren. Dort, wo Negin herkommt, aus der konservativen Provinz Kunar, bleiben Mädchen daheim. Jemand wie Negin wird schief angeschaut und die Familie gleich mit. Negins Onkel hatten sich dagegen ausgesprochen, sie nach Kabul zu lassen. Seit Jahren ist sie nicht mehr zu Hause gewesen. Sie fürchtet sich davor.
Ob Afghanistan ein Land wird, das seine Mädchen anders sein lässt, ob es ein Land wird, in dem Menschen Musiker sein können und nicht Kämpfer sein müssen, ist noch nicht raus. Die Taliban erstarken, auch in der Hauptstadt steigt die Zahl der Anschläge. Direktor Sarmast macht trotzdem weiter Pläne. «Wir bauen bald unsere eigene Konzerthalle», sagt er. «Wir werden außerdem viele der Studenten, die ihren Abschluss machen, als Lehrer einstellen.» Das spart Geld. Aber es stellt auch sicher, dass trotz aller Widrigkeiten die nächste Generation von afghanischen Musikern auf dem Weg ist.
(Hintergrund)
Des Kaisers Dschihad: 100 Jahre deutsch-afghanische Beziehungen
Berlin (dpa) - Im August 1915, gut ein Jahr nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, erreichte eine Gruppe deutscher Diplomaten die Grenzen Afghanistan. Monatelang waren sie über Land gereist, zeitweise als Wanderzirkus verkleidet und immer bemüht, russischen und britischen Spionen auszuweichen, die sie aufzuhalten suchten. Geleitet wurde die Expedition von Oskar Ritter von Niedermayer und Werner Otto von Hentig. Im Auftrag des deutschen Kaisers sollten die beiden den afghanischen Herrscher Habibullah als Kriegs-Alliierten gewinnen. Die Verhandlungen ab Spätsommer 1915 markieren den Beginn der nunmehr 100-jährigen Beziehungen zwischen Deutschland und Afghanistan.
Afghanistan sollte des Kaisers Brückenkopf werden, um Gegner England seine Kolonie Indien zu entziehen. Der Kaiser schrieb 1914: «Wenn wir zu Tode bluten, soll wenigstens England Indien verlieren.» Eine weitere Bemerkung klingt verdächtig nach Anstiftung zum Dschihad: «Unsere Consuln in Türkei und Indien, Agenten etc. müssen die ganze mohammedanische Welt gegen dieses verhasste, verlogene, gewissenlose Krämervolk zum wilden Aufstand entflammen.» Tatsächlich war die Niedermeyer-Hentig-Mission Teil einer großangelegten Strategie «zur Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde».
Der Kaiser bekam seinen Willen in Afghanistan nicht. 1916 zog die Expedition unverrichteter Dinge wieder ab. Im Jahr 1923 wurde in Kabul dennoch die Deutsche Gesandtschaft eröffnet. Ab den 1930er Jahren begann die Entwicklungshilfe. Heute ist Deutschland nach Angaben des Auswärtigen Amtes drittgrößter Geber für den zivilen Wiederaufbau.