Hintergrund der neuen Bildungsinitiative „‚Singen–Bewegen–Sprechen‘ (S–B–S)“ des baden-württembergischen Kultusministeriums, des Musikschulverbands und der Laienmusikverbände ist ein überraschend erfolgreiches Fördermodell an einem Mannheimer Kindergarten, durch das bei Kindern mit Migrationshintergrund eine hundertprozentige Schulfähigkeit erreicht wurde. Vergleichsgruppen mit konventioneller Sprachförderung schnitten deutlich schlechter ab. Das Projekt „Singen–Bewegen–Sprechen“ (S–B–S) ist auf sechsjährige Zyklen angelegt und umfasst die letzten beiden Kindergartenjahre sowie die gesamten vier Grundschuljahre. Von daher erfordert es ein ausgeklügeltes Zusammenwirken aller Beteiligten: Das baden-württembergische Kultusministerium setzte dazu einen Lenkungsausschuss ein, in dem Verantwortliche seitens Regierung, der Kindergartenträger (Gemeinden und Kirchen), der Grundschulen, der Pädagogischen und Künstlerischen Hochschulen, des Landesmusikverbands sowie des Landesverbands der Musikschulen vertreten sind. Die neue musikzeitung (nmz) sprach mit der Vertreterin der Musikhochschulen, Professor Elisabeth Gutjahr, Rektorin der Musikhochschule Trossingen.
neue musikzeitung: Was sind die Ziele des Projektes S–B–S? Handelt es sich um Erziehung durch Musik?
Elisabeth Gutjahr: Singen, Bewegen und Sprechen sind die drei elementaren, unmittelbaren menschlichen Ausdrucksformen. Das Projekt S–B–S beruht auf der Annahme, dass bei Kindern diese drei Ausdrucksweisen musikalisch „funktionieren“ – nicht im Sinne festgelegter kulturspezifischer Zeichensysteme, sondern elementar: vom Kind selbst „bevorzugte“ Bedeutungen von Tonhöhe, Melodie, Sprache und deren individuelle Kombination. Die drei genannten Ausdrucksformen werden intensiviert und gefördert unter Nutzung didaktischer Methoden der Elementaren Musikpädagogik und der Rhythmik. Im Gegensatz zu anderen Projekten, die sich auf auf motorische oder sprachliche Entwicklung konzentrieren, liegt hier ein „ganzheitlicher Ansatz“ vor.
nmz: Eine der Stärken von S–B–S scheint darin zu bestehen, dass es sich positiv auf die Entwicklung der die Schulreife auswirkt. Stimmt das? Und wenn ja, weshalb?
Gutjahr: Die Beobachtung, dass der musikalische Ansatz auch die Schulreife von Kindern positiv beeinflusst hat, beeindruckte insbesondere die Politik. Diese Erkenntnis ist zwar nicht neu, aber wieder sie wird hier sehr deutlich greifbar.
Mit Schulreife wird ein Entwicklungsstand des Kindes umschrieben, der viele verschiedene Fähigkeiten zusammenfasst. Das Programm S–B–S stellt im Gegensatz zu Förderprogrammen, die sich auf einzelne Kompetenzen konzentrieren, ein umfassendes Bildungsangebot dar, das spielerisch, emotional und bezogen auf die Ausdruckskraft der Kinder insbesondere über das Musikalische ein besonderes Potenzial entfaltet.
nmz: Gibt es Überschneidungen mit anderen Projekten?
Gutjahr: Viele Fragen wollen noch beantwortet werden, was auch eine Chance bedeutet. Da im Laufe der Zeit auch Instrumente hinzukommen sollen, wäre eine Umbenennung denkbar in „Bewegen–Singen–Sprechen–Musizieren“. Im Gegensatz zu JeKi und ähnlichen Projekten ist S–B–S nicht von vornherein landesweit einheitlich konzipiert. Es wird nicht alles „über einen Kamm geschert“, sondern au contraire: Es gilt, regionale Eigenheiten beziehungsweise Traditionen (wie etwa Zithergruppen im Schwarzwald) und bereits bestehende, gewachsene regionale Strukturen zu nutzen und zu unterstützen.
nmz: Welche Rolle spielt der Landesverband der Musikschulen in Baden-Württemberg?
Gutjahr: Das Land verdankt dem Musikschulverband die Initiative zum Modellversuch. Das Programm S–B–S berücksichtigt aber auch die vielseitige Arbeit der Laienverbände im Bereich Jugendmusik. Diese genießen im ländlichen Raum hohes Ansehen und leisten sehr erfolgreiche Arbeit, bis hin zur Förderung von Talenten, die dann die professionelle Laufbahn einschlagen. Für den Übergang von Elementarunterricht zum Musikunterricht werden individuelle und regionale Lösungen gesucht, was die Einbeziehung von Grundschulen, Musikschulen und Laienverbänden angeht. S–B–S kann hier unterstützend arbeiten, etwa mit weiterführenden didaktischen und methodischen Konzepten, Fachliteratur, Anregungen und Erfahrungsaustausch.
nmz: Kann man sagen, S–B–S ist speziell auf bestimmte Regionen oder soziale Brennpunkte hin konzipiert?
Gutjahr: Nein. Das Modellprojekt ist offen für alle Interessierten. Obwohl die Teilnehmerzahl ursprünglich auf 1.000 limitiert war, wurde inzwischen auf fast 1.400 Teilnehmer aufgestockt. Bei der Auswahl unter den Bewerbern wurde Wert auf Vielseitigkeit gelegt beziehungsweise Ausgewogenheit der Teilnehmenden: Stadt mit und ohne Brennpunkt – Land – viel oder wenig Migrationshintergrund in der Bevölkerung et cetera.
nmz: Das Konzept kann nach den zwei Jahren im Kindergarten nur fortgesetzt werden, wenn die anschließenden Grundschulen zustimmen …
Gutjahr: Um Unterbrechungen der Art zu vermeiden, die Sie andeuten, mussten gewisse Voraussetzungen erfüllt sein: Kindergarten, Grundschule(n) und musikalische Partnerinstitution treten als gemeinsame Antragsteller auf.
nmz: Welche Vorteile ergeben sich für Teilnehmer durch das Projekt?
Gutjahr: Via S–B–S finanziert das Land Baden-Württemberg Musikunterricht durch Musikpädagogen für die Partnerinstitutionen, programmorientierte Fortbildungen für die musikpädagogischen Fachkräfte, Handreichungen und Materialien, oder auch fakultative Fortbildung für Erzieher teilnehmender Kindergärten. Hinzu kommt der Erfahrungsaustausch.
nmz: Welche Rolle spielen die Eltern?
Gutjahr: Derzeit übernehmen die Kindergärten weitgehend Vermittlerfunktion zwischen Projekt und Eltern. Die musikpädagogischen Fachkräfte erhalten in Fortbildungen ebenfalls Anregungen, wie Eltern in den Musikunterricht eingebunden werden können. Das Land Baden-Württemberg will zusammen mit der ARGE zeitnah eine Projektstelle einrichten, die als Informations- und Vermittlungszentrale für alle Beteiligten und Interessierten agieren soll.
nmz: Worin unterscheidet sich S–B–S von anderen musikpädagogischen Projekten in Deutschland, zum Beispiel vom Musikkindergarten Daniel Barenboims?
Gutjahr: S–B–S orientiert und profiliert sich „baden-württembergisch“ und lehnt sich an landestypische Strukturen an. Darunter verstehe ich die qualitativ und quantitativ gute bis sehr gute Position der Musikschulen und eine ausgeprägte Förderstruktur für musikalische Bildung und Laienmusik. Ein Charakteristikum von S–B–S ist auch, dass es nicht besserwisserisch daherkommt, sondern eher bewahrend und kooperativ auf Vorhandenem aufbaut und aufbauen kann. Im Kindergartenbereich ist S–B–S das erste Landesprojekt in Baden-Württemberg, das auf fachdidaktischen Grundlagen der Rhythmik/EMP aufbaut.
nmz: Wie stellen sich die Musiklehrer in den Grundschulen zu S–B–S?
Gutjahr: Bisher gab es eher positive Reaktionen, wenn auch – wie immer bei neuen Projekten – manche befürchten, dass das Projekt Grundschullehrkräfte in ihrer Kompetenz zurückweisen will. Das Gegenteil ist der Fall: Musikbereich und Grundschullehrkräfte sollen gestärkt werden. Grundschul-Experten sind in allen Arbeitsgruppen des Projekts vertreten, ihre Positionen sind gut repräsentiert. Die Situation in den Grundschulen ist ohnehin so, dass der Musikunterricht im Fach „Mensch–Natur–Kultur“ (MeNuK) subsummiert und das Fach Musik in den Schulen eher stiefmütterlich behandelt wird. S–B–S könnte sogar eine Chance sein, die Nachfrage für das Fach Musik an Grundschulen zu stärken.
nmz: Für wann ist eine erste Ergebnisüberprüfung angesetzt?
Gutjahr: Eine erste Reflexion des Modellprojekts von Norbert Huppertz ist in Buchform erschienen1. Eine kleine Gruppe hochqualifizierter Lehrkräfte im S–B–S-Programm beginnt im Februar mit einer systematischen Evaluation der didaktischen Vorgaben und der Materialien. Außerdem ist auf freiwilliger Basis in manchen Kindergärten eine Evaluation begonnen worden. In den nächsten beiden Monaten wird eine „offizielle“ Evaluation im Sinne einer wissenschaftlichen Begleitung seitens des Kultusministeriums in Auftrag gegeben.
nmz: Welche Auswirkungen von S–B–S in den Hochschulbereich hinein sind bereits erkennbar?
Gutjahr: Im Hochschulbereich werden zukünftig S–B–S-bezogene Ausbildungsmodule aufgenommen und weiterentwickelt. Außerdem wird bald ein berufsbegleitender Master- oder Weiterbildungsstudiengang angeboten werden, möglicherweise in Kooperation zwischen Pädagogischen Hochschulen und Musikhochschulen. Das Feedback aus dem Hochschulbereich ist größtenteils positiv, aber auch kritisch. Es gibt Bedenken, dass S–B–S eine Alibifunktion bekommen könnte, und dass Fördermittel von anderen Einrichtungen abgezogen werden könnten. Seitens des Kultusministeriums existiert aber die ausdrückliche Versicherung, dass dem nicht so sei. Ich sehe das als ein außergewöhnlich positives Signal für die musikalische Bildung.
Das Gespräch führte Andreas Kolb
1 Huppertz, N. (2010): Handbuch Singen-Bewegen-Sprechen. Das Bildungsmodell für Kinder in Baden-Württemberg. Oberried: Pais-Verlag. (Bestellnummer: ISBN 978-3-931992-29-3)