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Was verbindet Europas Revolutionen mit dem Musikleben in Bochum? In welchem Verhältnis stehen die Komponisten der Alten und der Neuen Welt zueinander? Was bedeutete die nationalsozialistische Diktatur für Deutschlands Musikkultur? Antworten auf diese Fragen gaben in den vergangenen Jahren unkonventionelle Konzertprogramme der Bochumer Symphoniker unter Steven Sloane. Für die Saison 1996/97 erhielt das Spitzenensemble aus dem Ruhrpott gar die vom Deutschen Musikverleger-Verband jährlich vergebene Auszeichnug „Das beste Konzertprogramm“.Mit dem neuen Projekt „Assimilation“ will das Orchester in dieser Spielzeit Aufmerksamkeit auf sich lenken. Hinter dem Titel verbirgt sich ein Blick auf die jüdisch-deutsche und die jüdisch-europäische Kulturgeschichte. Daß Generalmusikdirektor Steven Sloane sich diesem Thema gerade im 50. Jahr des Bestehens des Staates Israel annimmt, ist kein Zufall. Neben einem amerikanischen Paß besitzt er nämlich auch den israelischen. Sloanes Absicht ist nun nicht einfach ein Jubelbeitrag zu den Feiern. Sein Konzept bleibt künstlerisch vieldeutig und gewinnt damit an Aussagekraft. „Erst die Konfrontation mit anderen Kulturen machte die jüdische Kultur aus“, sagt Sloane und belegt diese Behauptung mit Werken von Komponisten wie Mahler, Mendelssohn Bartholdy, Weill, Giacomo Meyerbeer, Gershwin oder Bernstein. Im Gegensatz dazu stellte sich im Palästina der vierziger Jahre oder in Israel seit 1948 die Situation erstmals ganz anders dar. Mit beinahe hundert Jahren Verspätung – vergleicht man es mit den nationalen Schulen in Rußland, der Tschechoslowakei oder den skandinavischen Ländern – entstand dort quasi eine Musik der „Anti-Assimilation“. Diese junge israelische Musik will Sloane im Bochumer Projekt „Assimilation“ dokumentieren. „In dem Konzert von Tabea Zimmermann mit dem Jerusalem Symphony Orchestra am 10. November spiegelt sich das ganze Phänomen in seiner heutigen Aktualität am besten. Die Jerusalemer spielen Beethoven, Béla Bartók und den israelischen Zeitgenossen Noam Sheriff. Dirigent ist David Shallon, der Ehemann von Tabea Zimmermann. Diese spricht inzwischen fließend hebräisch, genauso wie Shallon, der auch in Deutschland gearbeitet hat, gut deutsch spricht. Beide behielten im übrigen ihre Konfessionen bei.“
Mit 400.000 Einwohnern ist Bochum keine Millionenmetropole. Ihr Kulturleben ist eingebunden ins soziokulturelle Gefüge des Ruhrgebiets. Die Orchesterlandschaft des Ruhrgebietes ist reich: Nur eine Stunde Fahrt, und dem Ruhrgebietler stehen die Konzertsäle zwischen Recklinghausen, Dortmund, Essen, Duisburg, Mönchengladbach oder Wuppertal offen. Vielfältiger geht es nicht.
Dennoch: Viele Insider sehen im Ruhrgebiet gar keinen einheitlichen Kulturraum. Zu sehr sind die Konzertbesucher auf ihren jeweiligen Wohnort beschränkt – Durchlässigkeit scheint es kaum zu geben. Von diesem vermeintlichen Faktum leitet jedes Orchester im Revier auch seine Existenzberechtigung ab. Wenn aber alle dasselbe machen, dann stellt sich irgendwann doch die Frage nach der Notwendigkeit dieses Tuns.
Norbert Knyhala, Pressesprecher bei den Bochumer Symphonikern, bescheinigt „seinem“ Konzertpublikum eine große Bereitschaft zur Mobilität: „20 Prozent kommen aus der weiteren Umgebung wie Essen und Dortmund.“ Wenn das Publikum mobil ist, haben dann vielleicht eher die Kulturpolitiker die Scheuklappen und Abgrenzungsängste? Ulf Werner, seit Anfang des Jahres Orchesterdirektor in Bochum, beklagt partielles Denken bei den Verantwortlichen. Doch Änderung ist in Sicht. So gibt es jetzt eine Arbeitsgemeinschaft der Kulturmanager, die sich Gedanken über Kooperation und Netzwerk innerhalb des Lebensraumes mit der größten Bewohnerdichte in Deutschland macht. Die bisherigen Gespräche dienten dem Informationsaustausch, doch daraus sollen in Kürze Kooperationen und inhaltliche Abstimmung entstehen: Man bringt das Publikum nicht in Bewegung, wenn man in Essen und in Dortmund die Elektra zur gleichen Zeit neu inszeniert. Allerdings sieht Werner auch Gefahren der Vernetzung: „Indem man Absprachen trifft, sich gegenseitig unterstützt, wird der Standort des Orchesters noch viel wichtiger. Individualitäten der Orchester spielen eine größere Rolle. Jedes Orchester hat nur eine Existenzberechtigung, wenn es eben nicht nur das macht, was alle machen. Bochums Besonderheit besteht beispielsweise darin, kein Opernorchester, sondern ein rein sinfonisches Orchester zu sein. Nur deshalb sind Projekte wie das „Revolutionsprogramm“ oder „Assimilation“ möglich.
Als Steven Sloane 1994 als GMD in Bochum antrat, hatten die Symphoniker gerade 537 Abonnenten. Eine Fusion mit Dortmund stand zur Debatte, konnte aber abgewendet werden. Sloane über die Situation heute: „Es gibt so viele Orchester und Opernhäuser im Ruhrgebiet: unsere Gefahr ist, daß man zu klein denkt. Am Ende bleibt die Mittelmäßigkeit. Dabei fließen enorme öffentliche Gelder, und man muß sich fragen, ist das, was wir anbieten, auch in richtiger Proportion zu dem, was wir bekommen? Für uns steht die interessante künstlerische Arbeit im Vordergrund. Doch gerade öffentliche Gelder verpflichten uns, auch das allerbeste „packaging“ anzubieten, das gehört zu unserer Arbeit.“
Ein zentraler Punkt von Sloanes Verpackungskunst ist die Programmgestaltung, die dem Orchester Profil verleiht. Die Projekte durchdringen alle Konzertreihen und erreichen so verschiedene Zielgruppen. „Identifikation mit dem Orchester“, das ist auf eine kurze Formel gebracht eine weitere Strategie. Dazu sind vielfältige Öffnungen nötig, Sloane und das Orchester müssen sich auf die Menschen der Stadt zubewegen. Beispiele sind die Zusammenarbeit mit dem Bergbaumuseum, Stadtteilkonzerte oder sogar Auftritte auf Sozialstationen. Die Bochumer scheuen sich auch nicht, ihr jüngeres Publikum an Szeneplätzen wie dem Bermuda-Dreieck „abzuholen“. Fraglos beherrscht Sloane nicht nur sein Dirigierhandwerk, sondern spielt auch virtuos auf dem Marketing-Instrumentarium. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: In der Spielzeit 97/98 kann das Orchester 1.937 Abonnenten zählen, viermal mehr als 1994.
Doch auch aus einer positiven Entwicklung können sich Probleme ergeben. Werner spricht von sogenannten „guten Sorgen“ und meint damit, daß die Hauptspielstätten, das Audimax und das Schauspielhaus Bochum, nicht geeignet seien für klassische Musik. Das Schauspielhaus verfügt nur über 823 Plätze. Zum Teil müssen Konzerte wegen der großen Nachfrage zweimal gegeben werden. Zudem ist die Saalakustik mangelhaft. Sloane weist zurecht darauf hin, daß Konzertprogramme noch so interessant gestaltet sein mögen, für den Zuhörer zähle letztlich das Live-Erlebnis. „Da ist es eben frustrierend, wenn nicht das beim Hörer ankommt, was sich der Dirigent vorstellt und was das Orchester realisiert.“