Hausbesetzung, Kommunardenleben, Straßenkampf. Aufruhr und neue Wege sind Teil der 70er Jahre. Mittendrin formiert sich Ton Steine Scherben. Die Band aus Berlin liefert den Soundtrack zur Revolte.
Jimi Hendrix ist da. Es wird das letzte Konzert vor seinem Tod wenige Tage später. Ton Steine Scherben sind auch gekommen. Gerade erst in Berlin gegründet, hat die Rockband um Leadsänger Rio Reiser noch nie gemeinsam auf der Bühne gestanden. Auf Fehmarn soll das Love-and-Peace-Festival 1970 eine Art deutsches Woodstock werden. Zur Empörung der Musiker ist die Tageskasse verschwunden. Die Politrocker spielen «Macht kaputt, was euch kaputt macht». Reiser heizt die Fans noch auf. Erstmals entfaltet der Song, am 20. August vor 50 Jahren als erste Scherben-Single veröffentlicht, seine Urgewalt: im allgemeinen Tumult geht die Bühne in Flammen auf.
«Das war fulminant», erinnert sich R.P.S. Lanrue. Der heute 70-Jährige hat Ton Steine Scherben zusammen mit dem 1996 gestorbenen Reiser gegründet. Ralph Peter Steitz (Lanrue) und Ralph Christian Möbius (Reiser) verbindet eine Menge, nicht nur Zufälle wie der identisch geschriebene bürgerliche Vorname, die im selben Jahr nur fünf Tage auseinander liegenden Geburtstage oder der Umstand, dass Lanrues Enkelkind wie Reiser am 9. Januar geboren ist.
Im hessischen Nieder-Roden laufen sie sich 1966 über den Weg. Lanrue braucht einen Gitarristen und lässt Reiser einen Stones-Song vorspielen. Den singt er auch gleich noch. Passt. Als Beat Kings und De Galaxis spielen sie Covers und erste eigene Songs, lassen sich dafür etwa auch von den Stones beeinflussen.
Reiser geht nach West-Berlin, Lanrue folgt kurz darauf. Für das Theaterstück «Rita und Paul» schreiben sie 1969 «Macht kaputt, was euch kaputt macht». Der Song hat direkten Bezug zum Stück. «Da wurde jeden Abend ein Fernseher mit einem Rechtsextremen zertrümmert», erinnert sich Lanrue im Gespräch mit der dpa. «Dazu haben wir dann «Macht kaputt» gespielt.»
Kurz darauf gründen Reiser und Lanrue mit dem Bassisten Kai Sichtermann und dem Schlagzeuger Wolfgang Seidel Ton Steine Scherben. Im Lauf der Jahre wird es zahlreiche Zuwächse, Auszeiten und Wechsel in der Besetzung geben. Für «Macht kaputt, was euch kaputt macht» und «Wir streiken!» geht es in ein kleines Studio, mit den Songs ist die erste Single fertig.
Im Original hat «Macht kaputt» fast zwei Minuten Vorspiel, nach leicht sphärischen ersten Klängen folgt ein zunehmend aggressives Crescendo mit einem unverwechselbaren Gitarrenriff von Lanrue. «Wenn ich das nur angespielt habe, war die Stimmung sofort da», beschreibt der Musiker die aufgeheizte Situation in den Konzerten.
Dazu die Stimme von Reiser, es ist irgendwas zwischen Raunen und Schreien: «Radios laufen, Platten laufen, Filme laufen, TV's laufen, Autos kaufen, Häuser kaufen, Möbel kaufen, Reisen kaufen - Wofür? Macht kaputt, was euch kaputt macht.»
Die Scherben liefern auf drei Alben den Sound der Revolte: «Ich will nicht werden, was mein Alter ist» steht für den Generationenkonflikt, der «Rauch-Haus-Song» ist Begleitung für Hausbesetzungen, «Keine Macht für Niemand» steht für den Drang zu Freiheit und Anarchie.
Vieles von der Playlist zum Kampf gegen das Establishment spielt sich in Kreuzberg ab. Im geteilten Berlin ist der Bezirk wie getrennt vom Leben des restlichen Westteils der Stadt. Der Postzustellbereich SO36 wird an drei Seiten von der Mauer umschlossen. Es gibt kaum Durchfahrtstraßen, ein eigenes Biotop, Battleground von Ton Steine Scherben. «Die Erfindung Kreuzbergs» ist aus Sicht der «Tageszeitung» die «historische Großtat von Ton Steine Scherben».
Bei vielen Events sollen die Scherben spielen. Die Gagen sind bescheiden, Veranstalter erwarten Solidarität von der Band. Reiser, Lanrue und andere Musiker leben am «T-Ufer», eine Kommune am Tempelhofer Ufer. Offenes Haus. Viel Besuch, unangemeldete Eindringlinge, Polizeirazzien.
All das wird Reiser und Lanrue Mitte der 70er zuviel, mit einer kleinen Scherben-Gemeinde ziehen sie nach Fresenhagen in Nordfriesland. Dort entsteht das vierte Album «IV», das selbst viele Scherben-Fans kaum kennen. Es findet sich wenig Paroliges. Dafür musikalische Experimente - von Tarot-Karten inspiriert - zwischen sphärischen Klängen und Punk. «Mein Lieblingsalbum», sagt Lanrue.
Im Gründerjahr der Politband formiert sich auch die Rote Armee Fraktion. Besuch von RAF-Leuten in der Berliner Scherben-Kommune ist keine Seltenheit. «Die gingen ja bei uns ein und aus», erinnert sich Lanrue. Trotzdem steckt aus Sicht des Musikers «nicht viel» RAF in Ton Steine Scherben. «Obwohl wir viele Protagonisten kennengelernt haben, haben wir immer unser eigenes Programm gemacht», sagt Lanrue. Bewaffneter Kampf und blanker Terror gehören nicht dazu.
Das schließt Gewalt auch in skurriler Form nicht aus. Während einer TV-Diskussion zerhackt Scherben-Mitglied Nikel Pallat vor laufender Kamera mit einem Beil den Studiotisch. Fernsehen sei das «Unterdrückungsmedium in dieser Massengesellschaft», sagt er. Wie war das noch? «Macht kaputt, was euch kaputt macht.»