Ich habe ja das große Vergnügen, durch meine umfangreiche Kurstätigkeit jährlich 1.000 bis 1.500 Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen im ganzen deutschsprachigen Raum zu begegnen. Dabei ist das Singen das zentrale Thema. Und es gibt doch noch einige Pädagoginnen, denen ein unverkrampftes Verhältnis zum Singen geschenkt ist. Diese brauchen hier nicht weiter zu lesen. Doch begegne ich auch sehr vielen Pädagoginnen, die zutiefst verunsichert sind. Sie trauen sich einfach nicht zu, ein Lied anzustimmen: Ich kann doch nicht singen! Ich kann kein Instrument spielen! Diese Menschen wurden in ihrer musischen Ausbildung sträflich vernachlässigt. Gleichzeitig schweben hohe Ansprüche über den Pädagoginnen. Nicht zuletzt sind da auch die vielen Kinderstimmbildungsbücher verantwortlich, die in hehrer Absicht richtige, und doch kontraproduktive, Ansichten verbreiten.
Richtig ist: Die Kinderstimme hat einen bestimmten Umfang. Im Kindergarten sollte man die Lieder von d1 bis f2 anstimmen. In der Grundschule differenziert sich das zwischen der 1. und der 4. Klasse. Die Erstklässler kann man getrost von c1 bis e2 führen, später in der vierten Klasse haben einige Stimmen schon b, wenn nicht schon a erreicht. Soweit die anatomischen Grundlagen, von denen man ausgehen sollte.
Bremsklotz Stimmlage
Statistisch gesehen sind ein Drittel aller Frauenstimmen Sopran. So ist das auch bei den Pädagoginnen. Was kann man also tun, wenn man eine Mezzo- oder Altstimme hat? Sollte man dann lieber aufhören zu singen? Sollte man sich anstrengen und mühen, und die Lieder in unnatürlicher Lage vorsingen? Nein, bitte nicht. Wenn Sie vorsingen, dann nehmen Sie bitte ihre Lage. „Halt!“ Höre ich jetzt den Einspruch der vielen Kinderstimmbildner. „Das ist doch zu tief!“ Aber ja, sage ich, das ist zu tief. Und wie!
Aber – und jetzt kommt das große Aber: Wenn wir Lieder vermitteln, dann vermitteln wir nicht nur den Text mit seiner Geschichte und Aussage, nicht nur die Melodie mit ihrem rhythmischen Geflecht, auch nicht nur die harmonische Grundstruktur, die dem Lied zugrunde liegt. Wir vermitteln etwas ganz anderes: Wie geht es dieser Frau? Wie sieht sie dabei aus? Warum macht sie Musik? Wie klingt sie dabei?
Musik, und damit elementar verbunden das Lied, ist Teil unseres Lebens, unserer Identität und eben auch unserer Anatomie. Und wir klingen nur gut, wenn wir unsere Lagen gefunden haben. Das ist die Kernbotschaft, die wir mitgeben sollten. Wir sollten in dieser Phase ganz bei uns selber bleiben. Man vermittelt dadurch den Kindern die eigene Körperspannung. Und Kinder haben noch einen wunderbareren Sensus, ob ein Erwachsener Musikpädagoge spielt oder ein „stimmiger“ Mensch ist. Die Kinder lernen in Rekordzeit die Texte und die Melodien. Wir Erwachsenen schauen beim dritten Mal immer noch auf das Blatt und die Kinder singen schon fleißig auswendig den Text mit.
Nun kommt aber der zweite Akt: Wenn die Kinder das Lied gelernt haben, dann stimmen wir einfach das Lied in der altersgerechten Lage an. Und wir ziehen uns als Führungsstimme zurück. Die Pädagoginnen sollten nicht die lautesten sein, vielmehr sollte man die Kinder gut hören. Man kann hin und wieder Singimpulse in der eigenen bequemen Stimme geben, also in den Liedpassagen, die tiefer liegen. Aber das Wichtigste sind doch die Kinder. Denen macht das auch Spaß, alleine und ohne die Pädagogin zu singen.
Bremsklotz Perfektion
Die Perfektion! Durch die Medien, mit denen wir Umgang haben, sind Vorstellungen erwachsen, die uns weitgehend überfordern. Wir glauben oft, dass wir genauso gut sein sollten, wie diejenigen, die wir auf den CDs hören. Dieses Problem hatte der Volksschullehrer im 19. Jahrhundert nicht. Er hat einfach seine Lieder so gut gesungen, wie er es konnte. Wir aber haben Produktionen im Ohr, wo die Intonation stimmt. Selbst Kinderstimmen intonieren erstaunlich gut. Aber wir dürfen nicht vergessen, wie viele Takes genommen werden. Man sucht sich aus zehn Fassungen die perfekteste Version aus und veröffentlicht sie. Und wenn es keinen perfekten Take gibt, dann wird er mit Höhenkorrektur und virtuoser Schnittkunst bearbeitet. Die Technik macht es möglich.
Doch bei den Medien müssen wir uns immer im Klaren sein: es sind Kunstprodukte. Das ist vergleichbar mit Film und Theater. Wenn im Film der Held ohne Fallschirm aus 3.000 Metern Höhe abspringt und sicher und unverletzt auf seinen Füßen landet, dann wissen wir, das war ein Filmtrick. Im Theater aber fiebern wir mit, wenn ein Schauspieler aus zwei Metern Höhe vom Schrank springen muss.
Echtes Singen kennt keine Schnitte. Echtes Singen bedeutet Gelingen, Misslingen, Bezaubern, Versingen, inniger Ausdruck und Text vergessen. Aber gerade das ist das Lebendige. Und dazu hat jede Pädagogin Zugang.
Bremsklotz staatliche Stellen
Die staatlichen Stellen, von den Schulämtern bis zu den Kultusministerien, geben den Musikpädagoginnen ständig Rückmeldung, dass diese Arbeit letztendlich bedeutungslos ist. Es macht den staatlichen Stellen überhaupt nichts aus, wenn Musikunterricht ausfällt. Und schlimmer noch: sie streichen dieses Fach Stück für Stück aus den Lehrplänen, sodass Musik an den Schulen mehr und mehr verkümmert. In den Gymnasien kann man durch die G8-Komprimierung nicht mehr Chor und Orchester anbieten, weil die Schüler einfach mit anderen Stunden und Lehrinhalten zugepflastert sind. Den Musiklehrern werden für diese Angebote keine Stunden zugestanden. In den Grundschulen wurde Musik, etwa in Baden-Württemberg, in einen Wust von Mensch, Natur und Kunst hineingeknetet, sodass an effektiver Musikzeit nichts mehr übrig bleibt. In der Ausbildung der Erzieherinnen führt die Musik ein Mauerblümchendasein. Ständig gibt man den Pädagoginnen Rückmeldung: Das ist nicht wichtig! Das ist nur schmückendes Zierwerk bei Sommerfesten und Schulfeiern. Wie soll sich da eine Pädagogin unterstützt fühlen? Ein Blick in die Lehrpläne entlarvt alles. Das Musische gilt als hübsche Nebensache.
Natürlich halten die Politiker in den Sonntagsreden das Liedblatt ganz hoch. Und gleichzeitig richten sie ihr Augenmerk auf andere Dinge. Man fragt sich wirklich: Habt Ihr denn nicht mitbekommen, dass ein verstärkter Musikunterricht Sprachkompetenzen, mathematische Fähigkeiten, soziale Kompetenzen und vieles mehr fördert und unterstützt? Lest ihr denn keine Bücher über die neuen Ergebnisse der Hirnforschung? Ein aktiver Musikunterricht hat so viele positive Nebenwirkungen, dass man dieses Rezept allen Lehrplanmachern ins Stammbuch schreiben sollte. Und ich rede hiermit nicht der Musik, und damit auch nicht dem Singen, als Hirnviagra das Wort. Nein, sie leistet noch etwas ganz anderes, meiner Ansicht nach viel Wesentlicheres: Das Singen bietet Lebensfülle.
Die Schulen jedoch versinken in immer neuen Initiativen. Die Grundschulen in Baden-Württemberg müssen jetzt 200-seitige Lehrpläne erstellen, aus denen man genau ersehen kann, was in der 30. Woche in der 4. Stunde gemacht wird. Diese Sau wird jetzt solange durch das Dorf gejagt, bis ein neuer Kultushäuptling sich mit einer neuen Sau profiliert. Die Pädagogen ersticken in der Planungswut. Und wo bleiben die Kinder in den Plänen? Mit dem Pisa-Prügel kann man auch mächtig Unheil anrichten.
Das Singen wäre so einfach umzusetzen. Man braucht dazu nicht viel. Es geht ohne Instrumentarium, ohne Medien und Computer, ohne besondere Räumlichkeit. Man braucht auch keine hoch qualifizierte Ausbildung zum Singen.
Denn Singen ist wie das Sprechen ein Kulturgut des Menschen. Die Pädagoginnen erlauben sich ja auch, ein Gedicht von Guggenmoos vorzulesen, ohne eine Schauspielausbildung zu haben. Nicht jede Pädagogin erreicht einen künstlerischen Höhenflug. Das ist aber auch gar nicht nötig. Wichtig ist, dass sie das Gedicht überhaupt vorliest. Und genauso ist es mit dem Lied. Es muss nicht CD-reif sein. Es verlangt auch niemand ein Konzert. Viel wichtiger ist, dass überhaupt gesungen wird. Gerade in den Grund-, Volks- oder Primarschulen hat man ja die wunderbare Möglichkeit, nach kognitiven Arbeitsprozessen einfach ein Lied anzustimmen. Wenn das Hirn gerechnet hat, oder es sich beim Abschreiben auf die Bögen und Rundungen, auf die richtige Reihenfolge der Buchstaben konzentriert hat, dann kann ein Intermezzo wie „Zwei kleine Wölfe“ Wunder wirken. Solche Wunder lassen sich leicht herbeiführen.
„Mein Gott, singt doch einfach!“ Dieser Satz ist in beiden Bedeutungen gemeint. Man kann einfach nur singen. Man kann aber auch einfache Lieder singen. Sie sollten unbedingt ihren Platz haben. Nur Mut zu einer „Vogelhochzeit“ oder zu einem „Backe, backe Kuchen“. All diese Grundlieder gehören zum musikalischen Wortschatz unserer Kultur. An dem misst sich dann alles Folgende.
Wann aber endlich wachen die Kultusfürsten aus dem Tiefschlaf auf? Wann beginnen sie die Pädagoginnen zu unterstützen? Und nicht nur mit blumigen Reden in Kultus-Dur! Da hilft nur eines: Singt, bis sie wach werden!