Paul Ernst war sich allzu sicher, dass der Spuk des Neuen so schnell wieder vorübergehen werde, wie er gekommen war. Er arbeitete sozusagen „for the day after“, wenn der Katzenjammer groß sein würde und er als einer der wenigen Beständigen und Loyalen dann ein solides Werk im alten Glanz, das alle Irrläufe gut überwintert hätte, präsentieren könnte.
Paul Ernst war ein Dichter, der sich – nach anfänglichen Versuchen und Anleihen beim Naturalismus – den modernen Aufbruchsbewegungen lebenslang und konsequent verweigert hat. Er nahm keine Kenntnis von den das ganze 20. Jahrhundert und die gesamte geistige Welt Europas und Amerikas verändernden Werken und Schriften Sigmund Freuds. Auch den Revolutionen in Malerei, Dichtung, Film und Architektur verschloss er sich eisern. Er war nicht einmal so neugierig wie sein Mitstreiter auf dem Weg zur Neuklassik, Samuel Lublinski, der die Modernen zur Kenntnis nahm und sie, literaturpolitisch der eigenen Tendenz verpflichtet, entsprechend kritisierte: hier eine scharfe Attacke reitend, dort wieder Verständnis zeigend. Er hielt einer Tradition die unverbrüchliche Treue, die es so nie gegeben hat. Diese vermeintliche Fortsetzung eines traditionellen Erbes war in Wahrheit sein Traum, sein fiktionales Werk, das es dementsprechend unter völlig neuen Gesichtspunkten zu untersuchen gilt. Die Archäologie dieses Traums von den Ruinen der heilen Tradition ist die Voraussetzung, Ernsts Werk neu zu interpretieren. Das gilt besonders im Blick auf seine Dramen. Hier sind vornehmlich der „Preußengeist“, den es als objektiven ja noch nicht einmal in der Hegelschen Philosophie gibt, die Nibelungendramen und seine „Ariadne“ zu nennen.Denn weder die überlieferten Stoffe, auf die er sich bezieht, noch die Kontradiktion zu den neuen bilden den gültigen Rahmen, innerhalb dessen zu dechiffrieren wäre, was an Paul Ernst, wo nicht literarisch, so doch immerhin psychologisch, Aufschlüsse bezüglich der ganzen Fin-de-siècle-Epoche und der spezifischen deutschen Mentalitätsgeschichte darin erbringen könnte.
Dieser Entwurf bedeutet eine grundsätzlich andere Methode als diejenige, bekannte Melodien und Fragestellungen, nachdem man sie überall ausprobiert hat, auch in Paul Ernst-Werke zu tragen. Auch die andere Version, den Dichter in Bausch und Bogen dem 19. Jahrhundert zuzuschreiben, und ihn in der Tradition aufzuheben, welche die herkömmliche Gehaltsästhetik mitsamt ihrer gattungspoetischen Kategorienlehre zu fingieren imstande ist, verdeckt gerade den Standpunkt, um den es hier geht.
Denn die Tradition ist keine Selbstverständlichkeit, sondern sie ist, nachdem ihre Widersacherin, die emphatische Moderne selbst auf Tradierbarkeit, ja Kanonisierung drängt, ganz neu in den Blick zu nehmen.
Um mit dem großen Literaturkritiker Harold Bloom zu reden: sie ist, wofern sie echt sein sollte, immer eine geheime, als eine geheime jeweils neu zu entdecken und wieder zu verbergen. Dieser Vorgang des Entbergens und Wieder-Verdeckens ist ein genuin poetisch-poetologischer im Rankenwerk, das den Kern mythopoetischer Narration verrätselt und überwuchert. Das heißt, die Tradition ist da, wo sie nicht mehr verbindlich sich auswirkt, den Mythen zuzuschlagen.
Ähnlich wie wir heute in der Malerei die Werke A. Böcklins, L. v. Hofmanns oder F. v. Stucks nicht länger als Antipoden der Avantgarde ansehen, sondern neben dieser wieder entdecken als interessante, das Alte nicht tradierende, sondern simulierende Varianten, so steht es mit Dichtern wie Paul Ernst, die sich auf eine Realität der nur verdeckten, untergründig weiterwirkenden deutschen Heilsgeschichte berufen.
Wir können heute im Werk Paul Ernsts, gerade wenn wir ihn gegen sein Selbstverständnis lesen, eher die Gründe erforschen, warum damals der Bruch mit der sogenannten Tradition unvermeidlich und notwendig war, als bei jenen impressionistischen und naturalistischen Secessionisten und Avantgardekünstlern, die ihre ganze Energie dafür einsetzten, der neuen Zeit utopisch entgegen zu stürmen und der Freiheit der Kunst entsprechend brandneue Werke zu schenken und grandiose Denkmäler zu setzen.
Aber jenseits des Gegensatzes von – pars pro toto gesprochen – Cézanne contra Böcklin oder Karl Kraus contra Hofmannsthal, gilt die Anstrengung heute noch einem anderen Begriff, nämlich dem der schon in den Anfängen der Moderne aufleuchtenden Post-Moderne.
Diesem Begriff der Simulation des Klassischen, Alten und Traditionsreichen sind Künstler wie Böcklin und Hans von Maree heute mit mehr Gewinn zuzuordnen als ihnen mit den Kategorien der Antimoderne je zu entlocken war. Heute, da die klassisch-modernen Werke eine Art Patina und eine beinah edle Historizität verliehen bekommen, wie einst die alten Meister, öffnet sich das gesamte antipodische Material neuen Fragen.
Adornos Wort von der Kunst Georges, die gewissermaßen eine historische Zeit renaissencehaft heraufbeschwöre, die es gar nie wirklich gegeben habe, weist uns neue Wege auch zur Interpretation der Werke Paul Ernsts, jenseits von sentimentaler Apologetik der Freunde beziehungsweise der schroffen, jedes historische Verständnis noch verweigernden Polemik der Modernisten.
Ernsts schroffe unbeirrbare Ablehnung, seine keineswegs, wie er selbst wähnte, hellsichtige Verweigerung, der eigenen Gegenwart auch nur das kleinste Quantum Gültigkeit, das heißt der Ewigkeit zu entreißende Aktualität, zuzugestehen, wirkte sich auf sein Werk zum Teil regressiv und selbstzerstörerisch aus. Diese sture Haltung hat und bekommt nicht die geringste Dignität mehr zurück, wie er sich das erhofft hat. Auch da nicht, wo wir heute die Hybris der Modernisten in einem schärferen, deutlicheren Licht sehen als noch vor kurzem, in den partiell verblendeten Jahren des Kalten Krieges.
Aber inwiefern ist die alte Zeit, die für ihn sozusagen ein Maßstab der Ab- und Umkehr vom Neuen, einen Weg in die Zukunft weisen konnte, eine literarische Fiktion, die uns ein echtes Bild über die Notwendigkeit des Bruchs mit dieser Tradition geben kann? Diese Frage ist aktuell und kann uns an dem historischen Material seiner Stücke und Novellen zu kritischen Perspektiven leiten, die die Auflösungslogik an den bis heute rätselhaften Kunstobjekten und Schriften nicht nur der revolutionären Avantgarde, sondern eben auch der konservativen Revolutionäre evident und sichtbar machen. Die Frage bei Paul Ernst ist also die: Worauf reagiert er so starr und antimodern, wie er reagiert, was ist das Substrat, die reale Ursache für seinen Weg zur Neuklassik, wie es heißt. Und welche Klassik wird ahistorisch rezipiert in der Neuklassik? Er hat es selbst nicht zu sagen gewusst, es ist aber auffindbar in seinen Texten. Es ist an der Zeit, diese aktuellen Fragen mit den entsprechenden Methoden der Dekonstruktion auch auf die sogenannten „neuklassischen“ Texte im Werke Paul Ernsts anzuwenden, denn sein Werk, das am rigidesten sich als ein solches der Anciennität noch einmal behaupten wollte, wird sich als eine Ruine der Tradition erweisen, die zum einen Teil dem historischen Staub verfallen ist und zum anderen, interessanteren Teil allein seine subjektive Erfindung war.