Moskau - Für seine Filme, Opern- und Theateraufführungen erhielt Kirill Serebrennikow auch in Stuttgart, Berlin und Hamburg viel Beifall. Seit drei Jahren verfolgt die Justiz Russlands bekanntesten Regisseur. Dem liberalen Künstler droht nun Gefängnis.
Eine schwarze Maske trägt Kirill Serebrennikow am Tag des Strafantrags in seinem international kritisierten Prozess. Ein Bild des regimekritischen sowjetischen Rock-Pioniers Viktor Zoi ist darauf zu sehen - samt Aufschrift «Zoi lebt». Es ist ein leiser Protest des Theater- und Filmemachers, der auch in Deutschland bekannt ist. Der 50-Jährige spricht von einem «absurden Prozess» gegen ihn wegen angeblicher Unterschlagung staatlicher Fördergelder. Sechs Jahre Haft drohen ihm. An diesem Freitag (26. Juni) will das Gericht in Moskau das Urteil verkünden.
Die Verteidigung Serebrennikows, der mit drei Mitarbeitern vor Gericht steht, fordert Freispruch. Doch Freisprüche sind in Russland selten. Russlands Kulturszene ist deshalb alarmiert. «Das wird eine Verurteilung der gesamten modernen Kunst», sagt die mitangeklagte Theatermacherin Sofja Apfelbaum.
Die russische Zeitung «Wedomosti» zieht Parallelen zum Umgang mit Künstlern und Wissenschaftlern in finstersten Sowjetzeiten. Damals ließ der kommunistische Diktator Josef Stalin die Intelligenz reihenweise in Straflager - dem Gulag - einsperren.
In einem offenen Brief an Kulturministerin Olga Ljubimowa fordern Tausende Kulturschaffende, die Vorwürfe gegen den Chef des Moskauer Theaters Gogol-Zentrum fallen zu lasen. Sie kritisieren massive Verstöße im Prozess gegen Serebrennikow. Es seien Unterschriften und Beweise gefälscht und Zeugen unter Druck gesetzt worden.
Vor Gericht sagt Serebrennikow, dass er nie jemanden geschadet oder unehrlich gehandelt habe. Trotz aller «Schwierigkeiten, Verfolgungen und übler Nachrede» bereue er nicht, sich für die moderne Kunst eingesetzt zu haben. Er hoffe, dass eines Tages, sollten die Geheimdienstarchive geöffnet werden, klar werde, wer sich den Fall ausgedacht und dann den Befehl gegeben habe, gegen ihn vorzugehen.
In seinen Filmen packt der Regisseur oft gesellschaftskritische Themen an. Auch die politisch einflussreiche russisch-orthodoxe Kirche kommt dabei bisweilen nicht gut weg. Die Kirche steht im Ruf, sich immer wieder in kulturelle Belange einzumischen. Nach Kritik von Geistlichen wird 2015 an der Oper in Nowosibirsk etwa die beliebte Inszenierung von Richard Wagners Oper «Tannhäuser» abgesetzt. Opernchef Boris Mesdritsch muss gehen, weil den Geistlichen eine Szene mit Jesus im Bordell missfällt.
Härter trifft es 2012 zwei Musikerinnen der Punkband Pussy Riot, die im Straflager landen, weil sie in der Hauptkirche des Moskauer Patriarchats ein ruppiges Gebet singen. Sie protestieren gegen Präsident Wladimir Putin und gegen dessen «unheilige Allianz» mit dem Patriarchen. Beispiele wie diese gibt es viele.
Die liberale Kulturszene blickt deshalb seit langem besorgt auf die nationalkonservativen Tendenzen im Kulturministerium, das auch Zensur ausüben lässt - ohne sie so zu nennen. Serebrennikow versucht schon seit langem, einen Film über den homosexuellen russischen Komponisten Peter Tschaikowsky zu drehen. Das Ministerium zieht aber rasch die Fördergelder zurück, als klar wird, dass der Regisseur die schwule Seite des Weltstars thematisiert. Ein Tabu in Russland.
Auch diesmal geht es um Fördergelder. Serebrennikow soll über eine von ihm gegründete Produktionsfirma 129 Millionen Rubel (1,6 Millionen Euro) unterschlagen haben. Der Vorwurf lautet, es habe die für das Geld geplanten Inszenierungen nie gegeben. Das alles ist zwar mehrfach widerlegt. Trotzdem beruft sich die Anklage auf die Buchhalterin Serebrennikows, die nach einem Deal mit der Anklage noch immer das künstlerische Team belastet.
Immer wieder gibt es Wendungen in dem Verfahren. Wohl auch dank seiner Berühmtheit und weil sich Prominente wie Kanzlerin Angela Merkel und Hollywood-Stars für ihn einsetzen, kommt der Künstler 2019 nach fast anderthalb Jahren im Hausarrest auf freien Fuß. Er darf aber nicht reisen. Schon im Arrest inszeniert er aus der Ferne - über Assistenten - an den Opern in Stuttgart und Hamburg. Zuletzt zeigt im März das Deutsche Theater in Berlin Serebrennikows «Decamerone».
Hoffnung gibt es in dem Verfahren zunächst auch durch ein entlastendes Gutachten und eine Richterin, die den Fall wegen Widersprüchen an die Generalstaatsanwaltschaft zurückgibt. Doch die Anklage hat sich längst festgebissen an dem Fall. Sie erwirkt einen Prozess vor einem neuen Gericht, der nun endet.
Mit einem Machtkampf in der Kultur erklärt sich der Regisseur Alexander Sokurow im Menschenrechtsrat des russischen Präsidenten das Vorgehen gegen seinen Kollegen. «Kirill ist ein herausragender, ein großer Mensch», sagt Sokurow. «Es gibt aber Leute unter uns in der Kultur, die aus Hass und politischer Anbiederung bereit sind, gegen andere zu hetzen und sie zu denunzieren.» Der Regisseur Pawel Lugin spricht von einem «hässlichen Rachefeldzug».
In seinem Schlusswort vor Gericht zitiert Serebrennikow Joseph Brodskys Gedicht «Das Ende einer schönen Epoche». Seit der Festnahme im Sommer 2017 bei Dreharbeiten für seinen Film «Leto» über Viktor Zoi, kann er nicht mehr frei arbeiten. Drei Jahre ist das her.
Update 26.6.2020:
Russischer Starregisseur Serebrennikow verurteilt - aber in Freiheit
Christian Thiele und Ulf Mauder, dpa
Moskau (dpa) - Der russische Starregisseur Kirill Serebrennikow bleibt nach einer umstrittenen Verurteilung wegen Betrugs in Freiheit. Ein Bezirksgericht in Moskau verurteilte den 50-Jährigen am Freitag zu drei Jahren Haft - die Strafe wurde aber zur Bewährung ausgesetzt. Es sei nicht nötig, ihn von der Gesellschaft zu isolieren, sagte die Richterin Olessja Mendelejewa am Freitag der Agentur Interfax zufolge. Zudem sollten er und sein Team die veruntreute Summe von 129 Millionen Rubel (1,6 Millionen Euro) in die Staatskasse zurückzahlen.
Vor dem Gerichtsgebäude brach Jubel unter den Demonstranten aus. Einige weinten vor Erleichterung, dass der Star nicht ins Gefängnis muss. Viele lagen sich in den Armen. Er selbst sei nicht zufrieden mit dem Urteil, sagte Serebrennikow. Sein Verteidiger Dmitri Charitonow kündigte an, dagegen vorzugehen. Der Richterspruch sei noch nicht rechtskräftig. Serebrennikow sagte unter Beifall seiner Fans: «Danke für Eure Unterstützung. Danke, dass Ihr an unsere Unschuld glaubt. Für die Wahrheit muss man kämpfen.»
Serebrennikow leitet das populäre Gogol-Theaterzentrum in Moskau. Das Gericht stellte am Abend klar, dass der Starregisseur weiter als Direktor des Zentrums arbeiten dürfe. Ein Verbot von administrativen und organisatorischen Funktionen in Kultureinrichtungen sei nicht ausgesprochen worden, hieß es. Serebrennikow übt in seinen Filmen und Theateraufführungen immer wieder auch Gesellschaftskritik. Damit hatte er sich im Machtapparat und in der einflussreichen russisch-orthodoxen Kirche Feinde gemacht.
Das Gericht blieb hinter dem Antrag der Staatsanwaltschaft zurück, die sechs Jahre Haft gefordert hatte. Das Verfahren gegen den auch in Deutschland bekannten Künstler gilt als Schauprozess gegen die liberale Kunstszene in Russland. Hunderte Menschen, darunter viele Schauspieler, protestierten trotz eines Demonstrationsverbots wegen der Corona-Pandemie in Moskau gegen Justizwillkür.
Drei Jahre hatte das Verfahren gedauert - mit Serebrennikow standen auch seine drei Kollegen Sofja Apfelbaum und Alexej Malobrodski sowie Juri Itin vor Gericht. Malobrodski und Itin wurden ebenfalls verurteilt, Apfelbaum verließ ohne Strafe den Gerichtssaal.
Richterin Mendelejewa verlas das Urteil in rasendem Tempo mit leiser und monotoner Stimme. Sie begründete den Schuldspruch mit den Aussagen von Serebrennikows Buchhalterin Nina Masljajewa, die die künstlerische Leitung belastet hatte. Masljajewa hatte einen Deal mit der Anklagebehörde geschlossen. Ihr Fall wird in einem getrennten Verfahren behandelt.
Serebrennikow erschien mit schwarzer Gesichtsmaske vor Gericht. Er hatte schon in seinem Schlusswort am Montag seine Unschuld beteuert. Zugleich räumte er ein, dass die Buchhaltung seines Theaters schrecklich organisiert gewesen sei. Er verstehe aber selbst nichts von Buchhaltung und Finanzen, sagte er.
Als die Richterin am späten Vormittag eine Pause einlegte, meldete sich auch Kremlsprecher Dmitri Peskow zu Wort. Er sagte der Agentur Interfax zufolge, dass anhand dieses Falls analysiert werden müsse, wie sich die staatliche Finanzierung der Kultur in Russland gestalte. Verbreitet ist in der russischen Politik die Meinung, dass derjenige, der das Geld gibt, auch bestimmt, was gespielt wird. Deswegen bezeichneten es einige Kulturschaffende in Russland auch als Fehler, dass Serebrennikow überhaupt vom Staat Geld angenommen habe.
Kulturministerin Olga Ljubimowa sagte, dass gesetzliche Schritte ergriffen werden sollten, um solche Fälle wie bei Serebrennikow künftig auszuschließen. Ziel müsse eine stärkere Trennung von künstlerischer Leitung und Verwaltung bei Theatern und Orchestern sein. Die Ministerin wollte das Urteil zunächst nicht kommentieren - weil das Haus am Verfahren beteiligt und die geschädigte Seite sei. Der Staat habe einen großen Schaden erlitten, behauptete Ljubimowa.
Der Opern- und Schauspielregisseur inszenierte auch in Berlin, Stuttgart und Hamburg - oft in Abwesenheit, weil er im Hausarrest saß und auch nach seiner Freilassung im vergangenen Jahr nicht reisen durfte. Eingesetzt hatten sich für den Künstler auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie internationale Stars.
Die deutsche Theaterszene protestierte gegen die Verurteilung vor der russischen Botschaft in Berlin. Es wurde vergeblich versucht, dem Botschafter eine Unterstützerliste mit 56 000 Unterschriften zu überreichen, wie die Dramaturgin Birgit Lengers sagte. Unter den Teilnehmern waren demnach neben Schauspieler Lars Eidinger weitere Theaterschaffende wie Ulrich Khuon und Jossi Wieler.
Der Leiter der Berliner Schaubühne, Thomas Ostermeier, zeigte sich erleichtert, gab aber zu bedenken: «Die Freude ist ambivalent, weil das Gericht zwar das Urteil auf Bewährung ausgesetzt hat, aber die Angeklagten in allen Punkten der Anklage für schuldig befunden hat.»
Vor dem Gerichtsgebäude in Moskau empfingen viele Schauspieler, Sänger und Kulturschaffende Serebrennikow mit Beifall. Einige trugen T-Shirts mit der Aufschrift «Free Kirill!», insgesamt seien etwa 500 Menschen dort gewesen, wie ein Reporter der Deutschen Presse-Agentur berichtete. Sie applaudierten immer wieder.
Der Politologe Leonid Gosman sprach in einer Videoschalte der Internetplattform des Radiosenders Echo Moskwy von einem «echten Hass» des Machtapparats gegen Serebrennikow. «Das ist ein Regime, das gegen alles Lebendige, gegen alles Talentierte ist.»