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«Verbote gehen zu weit» - Eingriffe in die Kunstfreiheit können sich rächen. Foto: Hufner
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«Verbote gehen zu weit» - Eingriffe in die Kunstfreiheit können sich rächen

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Frankfurt/Main - Soll Anna Netrebko in Wiesbaden auftreten? Darf Roger Waters in Frankfurt singen? Immer öfter lösen geplante Auftritte von Künstlern politische Debatten aus, weil sie nicht als politisch korrekt gelten.

Die documenta in Kassel bildete den Auftakt: Statt über die gezeigten Kunstwerke oder das neuartige kuratorische Konzept wurde vor allem über Antisemitismus diskutiert. Aktuell gibt es in Wiesbaden und Frankfurt Debatten über geplante Auftritte der Sopranistin Anna Netrebko und des «Pink Floyd»-Mitbegünders Roger Waters. Politiker machen sich dafür stark, die Künstler auszuladen - wegen ihrer politschen Haltung.

Netrebko wird vorgeworfen, sich nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine nicht ausreichend vom Putin-Regime distanziert zu haben. Waters wird zur Last gelegt, antisemitische Propaganda zu betreiben. Deswegen sollen sie nicht bei den Maifestspielen in Wiesbaden oder in der Frankfurter Festhalle auftreten dürfen. Geht das zu weit?

Ja, sagt der Gießener Rechtswissenschaftler Maximilian Roth: «Kunstfreiheit ist ein von der Verfassung garantiertes und vorbehaltlos gewährtes Grundrecht.» Eingriffe in die Kunstfreiheit seien nur zum Schutze anderer Verfassungsgüter zulässig - zum Beispiel unserer freiheitlich-demokratische Grundordnung -, oder wenn ein Straftatbestand erfüllt werde - etwa der der Volksverhetzung. Aber auch dann bedürfe es noch einer «Verhältnismäßigkeitsprüfung», in der im Einzelfall abgewogen werden müsse.

«Auf keinen Fall» reicht es aus Sicht des Verfassungsrechtlers für ein Verbot aus, Künstlern politische Äußerungen - wie im Fall Walters - oder gar ihre Herkunft - wie im Fall Netrebko - vorzuwerfen. «Das eine ist das Leben der Künstler, das andere ein Konzert, beides hat juristisch zunächst einmal nichts miteinander zu tun. Erst wenn die Äußerungen, Haltungen und Symbole Teil der Kunst werden, kann das ein Einschreiten der Behörden legitimieren.»

Statt ein Verbot zu fordern, das juristisch nicht durchsetzbar wäre, könnte man Auflagen erlassen, schlägt Roth vor. Im Falle von Waters könnte man zum Beispiel verfügen, auf der Bühne keine antisemitischen Symbole zu zeigen. Bei Rappern mit antisemitischen Textpassagen könnte man verbieten, dieses bestimmte Lied zu singen. Bei der documenta einzelne Kunstwerke abzuhängen, war Roth zufolge möglicherweise juristisch gedeckt - die ganze Schau abzubauen nicht.

«Die Politik mischt sich im Allgemeinen vermehrt in Fragen ein, die eigentlich die Gesellschaft regeln sollte», sagt Roth. Wenn das Publikum die politischen Ansichten von Künstlern nicht teile, werde es wegbleiben. «Wenn die Politik das den Menschen nicht zutraut, finde ich das problematisch.» Keine Tickets zu verkaufen sei eine spürbarere Sanktion als eine Verbotsforderung, die - wie etwa bei dem Ballermann-Hit «Layla» - dem Song sogar mehr Erfolg bescheren kann.

Wenn eine strafrechtliche Schwelle überschritten were, seien politische Forderungen begrüßenswert. «Wenn sich die Politik aber in den Geschmack von Kunst einmischt, ist das im Zweifelsfall sogar kontraproduktiv», warnt Roth. Menschen, die dem Staat kritisch gegenüberstünden, könnten zu dem Schluss kommen, dass die Politik ihnen jetzt sogar noch vorschreiben will, welche Musik sie gut finden dürfen und welche nicht. «Dann kann sich das, was vielleicht gut gemeint ist, schnell ins Gegenteil verkehren.»

Auch der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, sieht die Gesellschaft in der Pflicht und nicht die Politik. «Es ist nicht Aufgabe des Staates, die Gesellschaft zu erziehen», sagt Mendel. Politiker dürften natürlich ihre Meinung sagen, aber nicht über Ausladungen von Künstlern entscheiden. Mendel hält das Weltbild Roger Waters für «grundfalsch», ist aber dennoch gegen ein Verbot. «Wer sollte das verbieten und mit welchem Grund?»

Bei der Debatte um die Konzerte in Frankfurt und Wiesbaden sieht Mendel «die gleichen problematischen Muster» am Werk wie bei der documenta. Zum einen werde Kritik mit Zensur verwechselt: Gegen etwas zu argumentieren, bedeute nicht, dass man Zensur ausübt. Zum anderen arbeiteten beide Seiten mit vorgestanzten Etiketten, «damit sie sich nicht mit den Argumenten auseinandersetzen müssen», wie Mendel sagt.

«Das Ganze ist wie ein Wanderzirkus», sagt Mendel. Der Anlass wechselt, aber im Grunde wird immer das Gleiche diskutiert und die Positionen der Beteiligten stehen schon vorher fest. «Fakt ist, dass wir solche Debatten immer häufiger erleben. Und jedes Mal wird die Diskussion verbohrter und emotionaler.» Aus dieser Schleife raus komme man nur, wenn beide Seiten den Versuch aufgäben, die Position der Gegenseite aus der Welt zu schaffen, «das wird nicht gelingen».

Zu einer ähnlichen Einschätzung kam auch der Berliner Rechtswissenschaftler Christoph Möllers nach der documenta. Er hatte in einem Gutachten herausgearbeitet, welche Möglichkeiten und Grenzen der Staat hat, inhaltlich in Kunst einzugreifen. Um es kurz zu machen: wenig. «Die Freiheit der Kunst kann auch in Fällen rassistischer oder antisemitischer Tendenzen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit vor staatlichen Zugriffen schützen. Das ist der freiheitliche Skandal der grundgesetzlichen Ordnung», so Möllers.

Zur Aufarbeitung der documenta gab es aber auch ein zweites, umfassenderes Gutachten, an dem sieben Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete mitgearbeitet hatten. Darin heißt es, öffentliche Kulturinstitutionen hätten die Pflicht, sich mit antisemitischen Vorfällen auseinanderzusetzen. «Dieser Pflicht steht die Kunstfreiheit nicht entgegen», bilanzierte das Gremium um die Frankfurter Konflikt- und Friedensforscherin Nicole Deitelhoff.