Der Förderverein musica reanimata, der sich für die Wiederentdeckung NS-verfolgter Komponistinnen und Komponisten und deren Werke einsetzt, feiert in diesem Jahr sein 25-jähriges Bestehen. In Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk Köln und dem Konzerthaus Berlin fanden seit 1992 mehr als 100 Gesprächskonzerte, teilweise mit den Komponisten selbst, statt. Außerdem ist der Verein Herausgeber der Buchreihe „Verdrängte Musik“ und der Zeitschrift „mr-Mitteilungen“. Anlässlich des Jubiläums unterhielt sich Carolin Gstädtner mit dem 1. Vorsitzenden von musica reanimata, Albrecht Dümling, über Arbeit und Ziele des Vereins.
neue musikzeitung: Wie wird das Jubiläum von musica reanimata gefeiert?
Albrecht Dümling: Wir veranstalten im November drei Jubiläumskonzerte, welche im Werner-Otto-Saal des Konzerthauses Berlin stattfinden werden und nicht – wie sonst üblich – im kleinen Musikclub. Das Konzert am 1. November wird dem Komponisten Erwin Schulhoff gewidmet sein, vor allem seinem Liedschaffen, darunter die bisher unveröffentlichten Lieder aus Opus 9. An diesem Abend soll auch ein neues Buch aus unserer Reihe vorgestellt werden: Ein Band zu den Klavierliedern von Schulhoff, verfasst von Gottfried Eberle. Die anderen beiden Konzerte beziehen sich auf Artur Schnabel, der nicht nur Pianist, sondern auch Komponist war. Gespielt werden an diesem Abend Werke von ihm selbst, wie auch der von ihm besonders geschätzten Komponisten, Beethoven und Schubert. Dafür haben wir prominente Musiker, Professoren der Musikhochschule Saarbrücken, auf Initiative von Stefan Litwin, gewinnen können.
nmz: Was gibt es zur Entstehungsgeschichte zu berichten?
Dümling: Es gab mehrere Startpunkte. Man wusste um 1990 schon viel über die Verfolgung von Künstlern, Malern und Schriftstellern, aber nur wenig über die Verfolgung von Musikern. Bei den Berliner Festwochen 1987 wurden unter der Thematik „Musik im Exil“ Komponisten vorgestellt, die aus Berlin geflohen sind, zum Beispiel Arnold Schönberg und Hanns Eisler. Zu diesem Themenschwerpunkt gehörte auch das Gastspiel der Wiener Kammeroper mit Viktor Ullmanns „Kaiser von Atlantis“, das uns stark beeindruckt hat. Ich habe damals die Ausstellung „Entartete Musik“ für die Stadt Düsseldorf vorbereitet, war also auch in die Thematik eingearbeitet und habe festgestellt: Man muss wirklich etwas für die vielen von den Nazis verfolgten Musiker und Komponisten tun. So haben sich schließlich einige Interessenten zusammengetan und im September 1990 den Verein musica reanimata gegründet, um diese Komponisten wiederzuentdecken. Wir haben Programmvorschläge gemacht und andere Veranstalter angeregt. Im Frühjahr 1991 fand eine Arbeitstagung im Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik statt, zu der mehrere Musikverleger, vor allem vom Schott-Verlag, Bote&Bock und vom Verlag Tempo Praha eingeladen waren. Diese Verlage haben sich bereit erklärt, die Werke der wichtigsten Theresienstädter Komponisten und von Erwin Schulhoff herauszubringen. Das war ein ganz wichtiger Punkt für die Geschichte des Vereins. Ein Jahr später kam es zur Gründung unserer Gesprächskonzerte „Verfolgung und Wiederentdeckung“.
nmz: Kooperationspartner sind der Deutschlandfunk und das Konzerthaus Berlin. Welche Rolle spielen diese Institutionen für musica reanimata?
Dümling: Der mittlerweile pensionierte Wolf Werth, damals Abteilungsleiter Musik beim Deutschlandfunk Köln, hat sich 1996 bereit erklärt die Ausstrahlung dieser Gesprächskonzerte fest zu übernehmen – für uns stellte das fast eine Art Trägerschaft dar. Zu unserer großen Freude übernahm Werths Nachfolger Frank Kämpfer die Verantwortung für die Sendereihe. Mit Georg Beck haben wir außerdem einen sehr guten Moderator gefunden. Zu unserem Bedauern wurde die Sendezeit nach einer Programmreform von zwei Stunden auf eine halbiert. Wir sind aber zuversichtlich, dass es jetzt in dieser reduzierten Form weitergehen kann.
Einen genau so wichtigen Partner stellt das Konzerthaus Berlin dar. Zu Beginn sind wir für unsere Konzerte hin- und her geirrt und hatten keinen festen Ort. Der damalige Intendant des Konzerthauses Frank Schneider hat uns 1993 angeboten, die Konzerte im Musikclub des Konzerthauses durchzuführen, was auch weiterhin unter seinem Nachfolger Sebastian Nordmann möglich ist. Das Konzerthaus liegt zentral und ist gut zu erreichen – das zeigt doch auch die Bedeutung unserer Thematik, mit der wir auch das Programm des Konzerthauses bereichern.
nmz: Wie finanziert sich der Verein?
Dümling: Das ist eine heikle Frage, für die es bisher keine richtige Lösung gibt – leider. Der Verein besteht aus etwa 100 Mitgliedern, die Mitgliedsbeiträge bezahlen, auf die wir fest bauen können. Für unsere Gesprächskonzerte mussten wir dennoch immer wieder betteln gehen, damit sie von Fall zu Fall finanziert werden. Eine wesentliche Unterstützung sind die Sendehonorare des Deutschlandfunks, der erkannt hat, dass es sich bei dieser Thematik nicht bloß um eine Berliner Angelegenheit handelt, sondern um eine nationale Aufgabe. Mit den Mitschnitt-Honoraren allein kann man die Konzerte nicht finanzieren, aber es ist doch eine ganz wesentliche Ausgangsbasis. Wir haben Finanzanträge bei verschiedenen Stiftungen und auch europäischen Institutionen gestellt, oft mit großem Aufwand, aber leider meist ohne Erfolg. Umso schöner sind dann immer die kleineren Spenden, beispielsweise durch die Pro Musica Viva Stiftung Mainz.
Eine langfristige Finanzierung wäre natürlich wünschenswert. Wir machen weiter – aber immer an der Grenze des Existenzminimums. Wir bedauern, dass wir den sehr guten Künstlern nicht solche Honorare bezahlen können, die sie eigentlich verdienen.
nmz: Warum haben Sie sich für die Konzertform der „Gesprächskonzerte“ entschieden? Welche Ziele verfolgt der Verein durch deren Austragung?
Dümling: Unsere Gesprächskonzerte bestehen aus einem Wechsel von Musik und Gesprächen, die in engem Bezug zueinander stehen. Für uns ist die hier erklingende Musik gleichzeitig Kunstwerk und historisches Dokument. Um dies zu beleuchten und die Situation der Verfolgung darzustellen, brauchen wir einen Wortanteil. Dafür ist es uns immer wieder gelungen, Komponisten selbst zum Sprechen zu bringen, beispielsweise George Dreyfus, Tzvi Avni, Haim Alexander, Ursula Mamlok und Joseph Horovitz. Die Musik soll für die Zeit sprechen, in der sie entstanden ist, also nicht nur über die Zeit der Verfolgung. 1933 beziehungsweise 1938 gab es eine schlimme Zensur, manche Komponisten konnten jedoch im Ausland weitermachen. Der Abbruch der Rezeption hatte zur Folge, dass manche Komponisten in Deutschland in Vergessenheit gerieten und nie wieder entdeckt wurden. Über solche Dinge sprechen wir, wie auch über Remigration: Was geschah nach 1945? Es geht nicht nur um die Nazi-Zeit, sondern auch darum, was heute geschieht und was man machen kann, um Werke solcher Komponisten wieder vermehrt aufzuführen. Das deutsche Musikleben ist durch die Verfolgung der Komponisten durch die Nazis stark eingeengt worden. Es sind die ausgeschieden, die jüdischer Herkunft waren oder die einen musikalischen Stil verkörpert haben, der nicht in die Nazi-Zeit passte.
Es gab vor 1933 ein sehr breites musikalisches Spektrum und wir versuchen mit unserer Reihe, wieder an diese Vielfalt zu erinnern. Passenderweise existiert im heutigen Musikleben kein einheitlicher Fortschrittsbegriff mehr, sondern die Offenheit der Polystilistik. Wir zeigen aber auch, welch erheblichen Einfluss die vertriebenen Komponisten in der ganzen Welt hatten und beleuchten einzelne Exilländer wie Mexiko oder Japan. So geht es um immer neue Aspekte – wir sind noch nicht am Ende unserer Arbeit angelangt.
nmz: Erinnern Sie sich an besonders bewegende Begegnungen mit Zeitzeugen?
Dümling: Ja, zum Beispiel mit dem Geiger Thomas Mandl, der 1994 bei uns zu Gast war. Es war für uns ganz enorm, wie sachlich und klar er sich an die Verhältnisse im Ghetto Theresienstadt erinnert hat. Die Nüchternheit, mit der er über diese sehr bitteren und schlimmen Dinge gesprochen hat, hat uns sehr verblüfft.
nmz: Haben Sie den Eindruck, dass die Konzertreihe dazu beiträgt, dass die dort präsentierte Musik im Konzertleben stärker Fuß fasst?
Dümling: Ja. Wir können zwar nur die kleinbesetzten Werke, höchstens ein Streichquintett, im Musikclub aufführen, da die Bühne dort klein ist. Doch es ist uns möglich, Einspielungen von orchestralen Werken zu verwenden und dank der Ausstrahlung im Rundfunk erreichen wir einen größeren Hörerkreis. Seit einiger Zeit unterstützt uns auch die Zentral- und Landesbibliothek Berlin, die Medienverzeichnisse für Benutzer erstellt, die alle dort vorhandenen Werke der betreffenden Komponisten oder Komponistinnen aufführen; manchmal kauft sie auch zusätzliche Noten, um es Musikern zu ermöglichen, sich weiter damit zu beschäftigen. Über unsere Webseite kann man Biographien nachlesen und wir haben auch einige wenige unserer Gesprächskonzerte als CD veröffentlicht. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Samenkorn, das wir auf diese Weise aussäen, von den Musikern bemerkt und weitergepflegt wird. Immerhin sind Komponisten wie Ullmann, Schulhoff oder Braunfels inzwischen bekannter geworden.
nmz: Gibt es einen festen Stamm von Interpreten und ein Stammpublikum?
Dümling: Ja, beides. Wir sind sehr froh, dass wir Musiker haben, die uns unterstützen. Einige arbeiten regelmäßig mit uns, unter anderem Axel Bauni, Holger Groschopp und Vladimir Stoupel. Wir freuen uns, wenn Künstler zu uns stoßen, die im Konzertleben prominent sind – die normalerweise sehr viel höhere Honorare verlangen – uns unterstützen, wie die Bratschistin Tabea Zimmermann oder die Geigerin Tanja Becker-Bender.
Was das Publikum betrifft, ist es sehr erfreulich, wie regelmäßig unser Stammpublikum kommt, aber auch, dass immer wieder neue und jüngere Leute dazustoßen.
nmz: Welche Pläne gibt es für die Zukunft?
Dümling: Der Vorstand hat bei seinem letzten Brainstorming im Frühjahr gemerkt: Es gibt noch sehr viele neue Themen zu erschließen. In der nächs-ten Saison wird es ein Gesprächskonzert zum Musikverlag Edition Peters geben, der 1939 arisiert wurde. Erfreulicherweise ist der Verlag erst kürzlich wieder in sein Stammhaus nach Leipzig zurückgekehrt. Des Weiteren wird es einen Abend über den Komponisten Paul Arma geben, über den auch ein Sammelband vorliegen wird. Weitere Schwerpunkte werden der Geiger Adolf Busch und der Komponist und Pianist Alexandre Tansman sein. Adolf Busch ist ein Sonderfall: Er war von den Nazis nicht verfolgt, wollte aber nicht mehr in ihrem Machtbereich bleiben und hat deshalb Deutschland freiwillig verlassen.