Schwerin/London (ddp-nrd). Für Bibliothekar Andreas Roloff bestand von Anfang kein Zweifel. Die Kunstwerke mit der Losnummer 717, die im Sommer dieses Jahres bei dem renommierten Londoner Auktionshaus Sothebys unter den Hammer kommen sollten, stammten eindeutig aus Schwerin. «Wir vermissen die prachtvollen Mappenwerke seit mehr als sechs Jahrzehnten», sagt der Experte und zieht eine handschriftliche Karteikarte mit der Inventarsignatur Vc II 2120 aus dem Aktenschrank.
Tatsächlich stimmen die Angaben mit denen auf dem Londoner Auktionskatalog überein. Das seien ganz klar jene Lithographien, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf Befehl der Trophäenkommission der Roten Armee aus der Mecklenburgischen Landesbibliothek ausgelagert worden seien. Seit 1946 fehle jede Spur von den Kunstwerken. Nun tauchten zwei der einst drei Mappen wieder auf.
Für vermögende Sammler russischer Kunst in aller Welt dürften die Bildkassetten keinen geringen Wert haben, mutmaßt Roloff. Immerhin handele es sich um ein Geschenk der russischen Zarenfamilie an den Großherzog von Mecklenburg. In den Mappenwerken befanden sich neben einigen Fürstenporträts insgesamt 493 aufwendig erstellte Farbabbildungen von Uniformen und Standarten des russischen Militärs von den Anfängen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie stammten von dem russischen General und Historiker Aleksandr Vasilevich Viskovatov, der seinerzeit sogar ein 30-bändiges Monumentalwerk mit 4000 Blättern für den Zarenhof angefertigt hatte. Die komplette Sammlung existiert heute nur noch in Museen in St. Petersburg und Washington.
Wenige Tage nach dem Auftauchen der Lithographien im Internet beantragte die Schweriner Bibliothek, die Versteigerung auszusetzen.
Sothebys stoppte die Auktion. Die Kunstwerke seien bis zur endgültigen Klärung in einem Sicherheitsraum verwahrt, sagt Lisette Aguilar, zuständige Mitarbeiterin bei Sothebys. Angaben über die Identität der Einreicher lehnte das Auktionshaus aber grundsätzlich ab.
Inzwischen meldeten sich bei Roloff telefonisch anonyme V-Männer.
Sie gaben an, im Auftrag des angeblichen Besitzers der Bildkassetten zu agieren und schlugen eine außergerichtliche Einigung vor. Doch ein eventueller Ankauf oder ein Tausch gegen erwünschte Militaria kam für die Bibliothek nicht in Frage. Nach wochenlangem Hickhack habe die Bibliothek nun Anzeige wegen mutmaßlichen Handels mit kriegsbedingt in die Sowjetunion verbrachtem deutschen Kulturgut erstattet, sagte Bibliotheksleiter, Regierungsdirektor Frank Pille. Das Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern hat Ermittlungen aufgenommen.
Ob die Kunstwerke jemals wieder im Archiv der Landesbibliothek stehen werden, ist ungewiss. Experten haben sich auf einen langwierigen, möglicherweise mehrere Jahre dauernden Rechtsstreit eingestellt. Bibliothekar Andreas Roloff aber ist zuversichtlich:
«Wir können lückenlos dokumentieren, dass die Mappen unser Eigentum sind.» Die Chancen stünden gut, dass die Sache ausgehe wie 1999 der «Fall Gotha». Damals war ein wertvolles Gemälde, das über dunkle Kanäle zu Sothebys gelangt war, in den Besitz des Gothaer Schlossmuseums zurückgelangt.