Kultur ist für die Hallenser auch ein Trostpflaster, ein ziemlich großes sogar. Denn seit Magdeburg nach der Wende das Rennen um den Sitz als sachsen-anhaltische Landeshauptstadt gewonnen hat, pflegt man sich an der Saale mit dem trotzig erfundenen Titel „Kulturhauptstadt“ zu trösten. Soviel vorab: Halle, die viel geschmähte „Diva in Grau“, trägt den Titel gewiss zu Recht, wenngleich es gewichtige Probleme zu lösen gilt.
Kultur ist für die Hallenser auch ein Trostpflaster, ein ziemlich großes sogar. Denn seit Magdeburg nach der Wende das Rennen um den Sitz als sachsen-anhaltische Landeshauptstadt gewonnen hat, pflegt man sich an der Saale mit dem trotzig erfundenen Titel „Kulturhauptstadt“ zu trösten. Soviel vorab: Halle, die viel geschmähte „Diva in Grau“, trägt den Titel gewiss zu Recht, wenngleich es gewichtige Probleme zu lösen gilt.Mit ihren rund 245.000 Einwohnern (1990 waren es noch knapp 300.000) leistet sich die Stadt ein Zweispartentheater mit A-Opernorchester und obendrein ein Philharmonisches Staatsorchester der Kategorie A. Konzerte finden in der zur Konzerthalle umgebauten Ulrichskirche und in vielen anderen Kirchen statt, es gibt die über die Wende gerettete Kammermusikreihe „Stunde der Musik“ in den Franckeschen Stiftungen, mehrere Reihen hat auch das Händel-Haus. Neues Prunkstück der Saalestadt ist die 1998 eingeweihte Händel-Halle. Hier bestreiten nicht nur die Philharmonie und teilweise das Opernhausorchester ihre Reihen, auch der MDR schickt sein Rundfunkorchester immer wieder hierher. Vor einigen Monaten ist das ARD-Orches- tertreffen zu Ende gegangen, in dessen Rahmen über zwei Jahre hinweg alle deutschen Rundfunkorchester in der Händel-Halle zu Gast waren.Auch um die Ausbildung ist es nicht schlecht bestellt: An der halleschen Martin-Luther-Universität wird Musikwissenschaft und Musikpädagogik unterrichtet, seit kurzem auf der so genannten Musik-Insel mitten in der Stadt. Es gibt mehrere Uni-Chöre und zwei Uni-Orchester, die Hochschule für Kirchenmusik hat gerade ihr 75-jähriges Bestehen gefeiert. Kaum weniger traditionsreich ist die Hochschule für Kunst und Design „Burg Giebichenstein“. Nicht zu vergessen das städtische Musikkonservatorium und eine Musik-Spezialklasse am „Latina“-Gymnasium, deren Schüler zu DDR-Zeiten directement an die Leipziger Musikhochschule weitergeleitet wurden.
Zudem ist Halle eine Theaterstadt, wobei das einst aus dem Opernhaus ausgegliederte „neue theater“ mit seinem Intendanten Peter Sodann (alias Tatort-Kommissar Ehrlicher) und seinen drei Bühnen sozusagen als Zentrale der Sprechtheater-Szene fungiert. Aber auch das auf Kinder orientierte, latent krisengeschüttelte Thalia-Theater (zwei Bühnen) verdient Erwähnung, das Theater der „Freien Komödianten“ und vor allem das vielfach preisgekrönte Puppentheater. Halles zentrale Kunsthalle ist die Galerie Moritzburg, deren Expressionismus-Sammlung noch heute bedeutend ist, vor der Beschlagnahmung durch die Nazis jedoch zu den größten ihrer Art zählte.
Die Franckeschen Stiftungen, einst pietistische Lehranstalt August Hermann Franckes, dienen heute nicht nur als Veranstaltungsort, sondern sind ein wichtiges Zentrum des gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und religiösen Diskurses. Den Stiftungen angegliedert ist unter anderem je ein Institut für Pietismus- und für Aufklärungsforschung. Und bald könnte die Bedeutung der Einrichtung deutlich steigen: Günther Grass hat die Franckeschen Stiftungen als Sitz der neu zu schaffenden Bundeskulturstiftung ins Spiel gebracht, und Bundeskanzler Gerhard Schröder hat bei den jüngsten Händelfestspielen Hilfe in der Angelegenheit zugesagt.
Stichwort Händelfestspiele: Das größte Musikfest Sachsen-Anhalts ist zweifellos das Aushängeschild der halleschen Kultur, mit dem die Stadt „ihrem“ Georg Friedrich Händel seine Reverenz erweist – auch wenn Händel hier nur die ersten 18 Jahre seines Lebens verbracht hat. Jahr für Jahr kommt die Elite der Alte-Musik-Szene nach Halle, wobei das Opernhaus und sein historisch instrumentiertes Händelfestspielorchester stets eine eigene Produktion beitragen. Die halleschen Händelfestspiele sind jedoch nicht nur elitär, sondern richten sich mit ihrem Beiprogramm und vor allem dem traditionellen Open-Air-Abschlusskonzert in der Galgenbergschlucht an die ganze Stadt. Die 50. Edition im Juni war mit einem opulenten Etat von über drei Millionen Mark ausgestattet, an dem die Stadt sich nicht zu knapp beteiligte. Dass dieses Geld freilich an anderer Stelle eingespart werden muss und Händel von den Stadtvätern außerhalb der Festspielzeit doch eher stiefmütterlich behandelt wird, bekommt unter anderem das Händel-Haus zu spüren.
Überhaupt sind, wenn man es recht bedenkt, einige Probleme der halleschen Kultur in ihrer eigenen Blüte begründet: Wo das klassische Bildungsbürgertum zu DDR-Zeiten nach und nach verdrängt wurde, wo heute die Arbeitslosenquote fast 20 Prozent beträgt, fehlt vielen Veranstaltungen der klassischen Hochkultur einfach das Publikum. Weniger davon betroffen sind die Ensembles des Opernhauses und der Philharmonie, die auf eine angestammte, etwas in die Jahre gekommene Zuhörerschaft zurückgreifen können. Umso mehr dafür Spezialangebote wie die Hallischen Musiktage, ein zweiwöchiges Festival für Neue Musik. Bedenklich auch, dass erstklassige Rundfunkorchester aus Freiburg, Hamburg oder Berlin vor nur 200 Zuschauern auftreten müssen. Hier zeigt die Kulturhauptstadt dann ihre provinzielle Ansicht.
Auch die schöne neue Händel-Halle ist bei näherem Hinsehen kein reiner Glanzpunkt: Die Akustik ist nach wie vor problematisch, die Anzahl der Veranstaltungen musste mangels Nachfrage inzwischen stark reduziert werden, die räumliche Nähe zur MDR-Hörfunkzentrale hat sich bislang nicht zum großen Vorteil entwickelt. Mit ihrem Fassungsvermögen von 1.500 Zuschauern hat die Halle die richtige Größe für Auftritte von Sarah Brightman, Stefanie Hertel oder Howard Carpendale. In dieser Klasse jedoch spielt schon seit Jahr und Tag das hallesche Steintor-Varieté, dessen gewiefter Manager sich bisher gut behaupten konnte.
Die Jugendszene findet ihre Musik ohnehin eher im Studentenclub „Turm“ (einem wahren Jazzparadies), im „Objekt 5“ oder in der „Easy Schorre“. Was in Halle dagegen fehlt, ist eine Bühne für die richtig großen Events. Bis zu ihrer Schließung erfüllte die umfunktionierte Eissporthalle diesen Zweck, schon die Open-Air-Bühne auf der Peißnitz-Insel erwies sich jedoch letztlich als zu klein für Peter Maffay & Co. Zurzeit also sieht es so aus, als sei die Händel-Halle – zumindest teilweise – eine Fehlplanung gewesen.
Während das hallesche Opernhaus einen soliden Spielplan präsentiert (aus dem ab und zu Zeitgenössisches und Barockes hervorragt) und „nur“ mit Mittelkürzungen rechnen muss, geht es bei der Philharmonie ans Eingemachte: Nach dem Weggang des langjährigen GMD Heribert Beissel hatte die Stadt keinen geringeren als Bernhard Klee gewonnen, der das Orchester innerhalb weniger Monate zu einem Spitzenensemble machte, von der Stadt jedoch durch Fehlbesetzungen in der Verwaltung und Nichterfüllen einiger Vertragsbedingungen verprellt wurde. Nun hat Wolf-Dieter Hauschild – auch er nicht mehr der Jüngste – das Amt des Chefdirigenten übernommen, und es sieht wieder besser aus für die Philharmonie. Inwieweit das Land seinen 80-prozentigen Zuschuss in Zukunft jedoch halten wird, muss sich noch zeigen. Die Stadt jammert ihrerseits, weil sie als Trägerin die Mehrkosten abfangen muss, und sähe die Philharmonie gerne in der Hand des Landes – das daran freilich nicht denkt. Werden die Probleme nicht gelöst, ist die nächste Orchesterfusion Ostdeutschlands nur noch eine Frage der Zeit.
Einsparungen im Kulturetat der Stadt, der stattliche elf Prozent beträgt, sind beschlossene Sache und wohl unvermeidbar, wenngleich über das Wie und Wo noch diskutiert wird. Wichtig ist jedoch nicht das Geld allein, es zählt auch der Wille, die kulturelle Identität Halles auf lange Sicht zu planen und sie nicht nur von der momentanen finanziellen Situation abhängig zu machen. Visionen sind gefragt, hinter denen Menschen mit Profil stehen müssen. Davon hängt ab, ob Halle in Zukunft eine Kulturhauptstadt mit provinziellem Charakter oder doch mit überregionaler Ausstrahlung sein wird.