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Vom gesellschaftspolitischen Sinn der Forschung

Untertitel
Zur Kritik an der Langzeitstudie „Musikerziehung und ihre Wirkung“
Publikationsdatum
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Hans Günther Bastian äußert sich ausführlich zur Kritik an der sogenannten Bastian-Studie und plädiert für die Freiheit der Forschung und die gesellschaftspolitische Notwendigkeit, den Effekten musischer Bildung auf die Spur zu kommen.

Prolog: Über Kritik

Wer forscht und publiziert, der muss mit Kritik leben. Keine Frage! Sind Besprechungen formal und material schwach oder forschungsmethodisch wirklichkeitsfremd, dekuvriert sich der Rezensent selbst. Selbstverständlich muss eine Rezension immer autonom bleiben und sie muss - der Sache und des Erkenntnisfortschrittes wegen - immer kritisch sein. Im besten Fall sollte der „Gutachter“ ein Experte des Faches sein, einer der von empirischer Forschung etwas versteht und im Idealfall sogar selbst geforscht hat. Am Beispiel unserer Studie war ich als projektverantwortlicher Autor schon überrascht, wer alles sich zu Wort meldete. Selten wohl ist eine Studie unseres Faches mit so extrem unterschiedlichem Echo aufgenommen worden, die Skala der Bewertungen reichte von totaler Euphorie, die gar von einer „Jahrhundertstudie“ sprechen ließ, bis hin zu barscher Kritik und Ablehnung. Bei so mancher „Besprechung“ konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, als sei bereits eingetreten, was Christoph Rolle und Jürgen Vogt geradezu neo-apokalyptisch im Kontext der Frage nach wissenschaftlichem Nachwuchs im Fach beschreiben: „Wer ist eigentlich in Zukunft noch imstande, überlebenswichtige wissenschaftliche Arbeiten wie die „Bastian-Studie“ durchzuführen? (...) Und, so müsste man noch ergänzen, wer ist eigentlich in Zukunft noch in der Lage, wissenschaftliche Arbeiten wie die „Bastian-Studie“2 sachkundig zu diskutieren oder gar zu kritisieren?“3

Kritik ist kein leichtes Unterfangen, aber auf jeden Fall sollte sie das Gegenteil von Destruktion4 sein. Und Kritik setzt nicht nur fachliche Kompetenz, sondern mehr noch hohe Sensibilität für die Entscheidungen derer voraus, die sich über viele Jahre hinweg in ein Forschungsvorhaben investierten. Kritik bedeutet also in erster Stufe eine Sache in ihren innerlichsten Zusammenhängen sehen, sodann eine Sache aus ihrem eigenen Geist zu begreifen und darzustellen. „Bildung ist da vorhanden, wo einer die Gedanken eines anderen, auch wenn er sie nicht teilt, zu verstehen sucht“ (Hegel). Sachlich beurteilen- ja, brüsk verurteilen – nein! Letztlich soll Kritik der Sache und ihrem Erkenntnisfortschritt dienen und nicht der Selbstdarstellung eines Rezensenten. Hier ist prinzipiell nicht der Ort, die Seriosität einiger Kritik(en) zu erörtern, es wäre im Übrigen ein mühsames und vielleicht nach Rechtfertigung heischendes Geschäft, das selbst bei besten Gegenargumenten nicht überzeugen würde. Sinn dieses Beitrages ist nicht in erster Linie persönliche Verteidigung, sondern reflexive Auseinandersetzung mit Reaktionen auf unsere Studie als Teil eines lebendigen Wissenschaftsbetriebes. Ein ernstzunehmender methodologischer Diskurs der Studie fehlt bis heute, lediglich der Beitrag von E. Vanecek5 geht in die richtige Richtung.

Von Schlagzeilen, Vorurteilen und Käseduft

Es waren Inhalt und Art der Kritik, die bisweilen den Eindruck hinterließen, dass die Studie offensichtlich nicht angemessen gelesen worden war6 und sich so mancher Kommentar wohl aus der bewusst populärwissenschaftlich geschriebenen Taschenbuchfassung7 oder gar nur aus Presse-Berichten und deren Schlagzeilen speiste. So gab es Monita, die uns Forschern schlicht unterstellt wurden (u.a. Bastian wolle den Musikunterricht einzig aus den Transferleistungen des Faches legitimieren, Musik sei doch nur um ihrer selbst willen zu unterrichten). Diese Behauptung war uns unverständlich, waren doch einschlägige Kapitel der Studie (z.B. 1. Zu Selbstverständnis und fachlichem Stellenwert der Studie, S. 25-31) um Klärung unserer ästhetischen Position bemüht. Dort wird der Vorrang der Musik als eigenes, primäres, autonomes und durch nichts anderes zu ersetzendes Sachziel ausdrücklich begründet. Das Fatalistische in der Diskussion war, dass die gegen die Studie ins Feld geschossenen Argumente teils auch unsere Argumente waren. Was unsere Kritiker uns vorwarfen, was sie als Defizit oder Verschiebung entdeckt zu haben glaubten, darauf waren wir bereits aufklärend in der Studie selbst eingegangen – mag sein oder offensichtlich, nicht immer unmissverständlich genug.

Eine weitere Irritation: Bisweilen hatte ich in der Rezeptionsgeschichte unserer Studie den Eindruck, als machten sich manche Kritiker mehr Gedanken um die Berechtigung eines statistischen Gammaleins oder um eine angeblich so gewagte Über-Interpretation in unserer Studie als dass der eine oder andere Experte sich Sorgen um den katastrophalen Zustand von Musikunterricht in unserem Lande machte. Die Proportionen geistiger Anstrengungen für sinnvolle Ziele schienen mir im Fach bisweilen aus den Fugen geraten. Eine Studie, die bildungspolitisch motiviert war, geriet stärker in das Kreuzfeuer der Kritik als die Misere einer deutschen Bildungspolitik ohne Musik. Dies mochte für manche Politiker ein willkommener Anlass sein, sich weiterhin oder gar noch stärker als bisher aus der Verantwortung zu stehlen mit Verweis auf notorische Bedenkenträger, die das Design der Studie und Wirkungen der Musikerziehung in Frage stellten.

Überrascht hat mich als Projektleiter die enorme Diskrepanz von Zeit- und Kräfteinvestition in eine mit Planung, Durchführung und Auswertung nahezu zehnjährige Langzeitforschung mit zahlreichen selbst entwickelten, informellen und halbstandardisierten, neu erprobten Testverfahren auf der einen und der teils oberflächlichen Kritiken auf der anderen Seite.8 Forschungsethisch gesagt: Ein 10 Jahre dauerndes Forschungsprojekt durfte detailliertere und differenziertere Rezeption erwarten als wir sie lesen konnten.

Was die Kritik im Allgemeinen betrifft: Es ist zweifellos leichter, vom Schreibtisch aus ein paar Schlagzeilen in den PC zu stanzen als sechs Jahre intensivste Feldforschung zu betreiben. Unberührt blieb ich von nebulösen Wortschwaden von Musik-Journalisten aus irgendeiner Redaktionsstube: Mozart oder Molotow (DER SPIEGEL)… Musik macht klug (DIE ZEIT)… Wer singt, prügelt nicht (DIE SÜDDEUTSCHE)… DIE BASTIAN-FALLE (NMZ). Obwohl dem Autor beim ersten großen öffentlichen Interview in DIE ZEIT9 vom Interviewpartner Claus Spahn zugesagt wurde, alles zu tun, die Schlagzeile „Musik macht klug“ zu vermeiden, wurde ich kurz darauf mit ihr konfrontiert. Die Geister, die der Autor rief, wurde er nicht mehr los. Und es wurde zunehmend anstrengend, „sich gegen seine Liebhaber zu verteidigen“(Adorno). Meine Distanzierung von den Schlagzeilen der Medien10, mein Verweis auf den Etikettenschwindel bis hin zur Ablehnung der Morsezeile „Musik macht intelligent“ auf dem Taschenbuch als Aktion musikwirtschaftlicher Verbände, gegen die der Autor bis zuletzt sich im Verlag gewehrt hat, wurden kaum wahrgenommen. Mit solchen „Kritiken“ werde ich mich hier nicht auseinandersetzen. Es lohnt die Zeile, ja das Wort nicht, weil derartige Stereotypen nicht korrigierbar sind und nur des wohlgefälligen Moments wegen geschrieben sind. Vorurteile halten sich gegen bessere Einsicht länger als jeder Käse- oder Chanel-Duft. Manche Kritik an der Studie basierte offensichtlich auf Missverständnissen, auf Fehldeutungen oder auf von uns nicht intendierten Ansprüchen an die Studie. Mit diesen Rezensionen wollen wir uns auseinandersetzen, auch um den Erkenntnisfortschritt ein Stückweit voranzutreiben.

Zur Vorsicht im Umgang mit empirischen Forschungsbefunden

Es ist trivial, aber offensichtlich nicht überflüssig, zunächst darauf hinzuweisen, dass es "die" Wirkung "der" Musik auf "den" Menschen a priori nicht gibt. Jede Verabsolutierung im konkretisierenden Artikel ist ein hypothetisches Konstrukt, das die Komplexität der empirischen Wirklichkeit kaschiert. Methodologisch gesprochen: Empirische Forschung kann allgemeine Probleme immer nur an einer begrenzten Stichprobe in einem spezifischen soziokulturellen Kontext mit ausgewählten Methoden für einen bestimmten Zeitraum untersuchen. Und dieser Forschungsanspruch ist hoch genug, will man ihn angemessen operationalisieren.

Musik und Intelligenz: eine pressewirksame - aber überbewertete Korrelation

Zum Zusammenhang von Musik und Intelligenz darf ich zunächst feststellen, dass diesbezügliche Befunde in der Studie differenzierter und vorsichtiger interpretiert sind, als sie im platt-griffigen „Musik macht klug“- Journalismus reproduziert sind. Fern jeder Pauschalisierung und Generalisierung kann ich bilanzieren: Schüler im Alter zwischen 6 und 12 Jahren, die eine erweiterte Musikerziehung nach der Art des Berliner Rahmenplans (2std. Fachunterricht Musik pro Woche + Lernen eines Instrumentes in der Schule + Ensemblemusizieren) erlebten, steigerten nach etwas mehr als drei Jahren ihren IQ-Wert (errechnet aus einem kulturunabhängigen Intelligenztest, etwa dem Cattell-Faire-Intelligence-Test / CFT) signifikant deutlicher als Kinder ohne dieses Musik-Treatment. Es gibt somit einen positiven Zusammenhang zwischen Lernprozessen im Musikunterricht und der Förderung kognitiver Fähigkeiten, wie sie ein bestimmter IQ-Test abverlangt. Damit wird zugleich betont, dass die (im Adaptiven Intelligenz Diagnostikum sogar nur zeitlich befristeten) positiven Intelligenzveränderungen stärker abhängig sind von der Art der Tests als von Wirkungen der Musikerziehung. Leider wurde uns sogar die Behauptung eines Kausalzusammenhangs zwischen Intelligenz und Musikalität unterstellt.

Keine Rezension vergab eine Zeile für unsere methodenkrititischen Auslassungen zur Validität, Objektivität und Reliabilität vorliegender IQ-Tests und für meine Forderung nach neuen Tests, in die die Konstrukte „Intelligenz“ und „Musikalität“ Eingang finden müssten. Dass die Korrelationen zwischen Intelligenz und musikalischer Begabung nicht höher oder Wirkungen von Musik(erziehung) nicht deutlicher ausfallen, wirft ein prinzipielles Problem in der theoretischen Analyse des Zusammenhangs zwischen Intelligenz und Musikalität auf. Es ist nämlich grundsätzlich zu fragen, welche Teilfähigkeiten des Konstruktes "Intelligenz" mit welchen Teilkomponenten der "Musikalität" übereinstimmen, vor allem auch, welche dieser Komponenten als meßbare Größen in die diversen Tests eingehen. Zu vermuten ist, dass "musikalische" Fähigkeiten wie (akustische) Mustererkennung, Gestaltwahrnehmung, akustisches Gedächtnis, Kreativität, akustisches Vorstellungsvermögen in den herkömmlichen Intelligenztests (auch dem CFT) überhaupt keine Rolle spielen, weil diese überwiegend mit non-verbalem, visuell-bildlichem Material arbeiten. Insbesonders ist Kreativität mit ihren Merkmalen Originalität, Flexibilität, Ideenproduktion usw. durch traditionelle IQ-Tests kaum erfaßt worden. Daher ist in der Frage nach möglichen Korrelationen zwischen Intelligenz- und Musikalitätstests nur ein Korrelationsschluss erlaubt etwa nach dem Schema: Wer gut Rechenaufgaben löst, hat auch eine gute Raumvorstellung. Viel wichtiger und interessanter wäre es, wenn man in der künftigen Testforschung die Konstrukte "Musikalität" und "Intelligenz" theoretisch genauer analysierte, definierte und ggf. neu operationalisierte und konsequenterweise "Musikalität" als Teilaspekt intelligenten Verhaltens in entsprechenden Intelligenztests konzeptualisieren würde. Dieser Grundsatzfragen sollten wir uns dringend annehmen, um zu valideren und aussagekräftigeren Korrelationen zwischen beiden Variablen zu finden.

Das angebliche Fehlen eines Mehrkontrollgruppendesigns

Eine beharrlich reproduzierte Kritik richtete sich auf das angebliche Fehlen eines Kontrollgruppendesigns mit ,fach- verschiedenen' Substichproben (sog. Mehrkontroll-Gruppenplan). So Altenmüllers wiederholte Behauptung, die sich nach ihm viele ungeprüft zu eigen machten und kolportierten: ,Das Design der Studie war fehlerhaft, denn eine echte Kontrollgruppe, die z.B. in einem anderen Fach, etwa Werken oder Malen eine entsprechende Mehrzuwendung erfuhr, fehlte“11. Der Fehler liegt nun aber nicht im Design, sondern in Altenmüllers Lektüre. Bei genauem Nachlesen auf den S. 188 und 189 der Studie 2000 kann sich jeder von unterschiedlichen Schwerpunkten der Kontrollklassen überzeugen: Die Kontrollgruppe Hansa-Grundschule ist eine sprachenbetonte Grundschule (Französisch und Englisch als Fächer), die Kontrollgruppe Heinrich-Seidel-Grundschule hat eine Sportbetonung. Beide Kontrollklassen entsprachen mit ihren jeweiligen Schwerpunkten „Sprachen“ und „Sport“ der Forderung nach einem Mehrgruppenplan. Unser Design war also ein fächererweitertes, wenn auch im Blick auf die Probandenzahlen in sehr begrenztem Rahmen. Und dies war der Grund dafür, warum ich die Ergebnisse in Abhängigkeit vom Fach Sport und Sprachen nicht veröffentlicht habe. Dies verboten die zu kleinen Stichproben, zumal wenn entsprechende Negativbefunde womöglich leichtfertig zu einer öffentlichen Abwertung dieser Fächer geführt hätten. Hier nur ein Ergebnis der internen Auswertungen: Die sozialen Kompetenzen unter den Schülern waren am wenigsten ausgeprägt in der sportbetonten Grundschule, also ausgerechnet im Lobby-Fach Sport.

Ich will bei einigen theoretischen und praktischen Argumenten zum Mehrkontroll-gruppenplan bleiben. Was soll Forschung mit einem fach-divergierenden Kontrollgruppendesign im Ergebnis bringen? Etwa, dass Latein weniger und Mathematik vielleicht andere Transfereffekte als Musik generiert? Sollten dann die Stundenzahlen der Fächer begrenzt oder das eine oder andere Fach ganz abgeschafft werden? Wirkungen verschiedener Fächer zu vergleichen oder sie gar gegeneinander auszuspielen würde eine gefährliche Fächerkonkurrenzdebatte auslösen!

Was schon in der Theorie als höchst fragwürdig erscheint, ist aber in praxi noch problematischer. Die einzelnen Fächer (wie viele sollten es denn sein?) müssten zunächst Grundlagenforschung betreiben, z.B. ihre Fachstruktur durchleuchten (was ist "die“ Mathematik, „die“ Chemie usw.), sodann müsste man fächerspezifische Transfer-Arten annehmen, die man miteinander gar nicht vergleichen kann. Auch ließe sich diese fächerübergreifende Grundlagenforschung nicht ohne ein interdisziplinär besetztes Forscherteam umsetzen. Denn wer wollte als einzelner Forscher sich die Kompetenz anmaßen, Treatments für die verschiedenen Fächer zu entwerfen? Laborforscher, die mit klein(st)en Stichproben operieren, können ungeniert fordern, ohne sich der Theorie schuldidaktischer Probleme und der Mühsal praktischer Feldforschung stellen zu müssen.

Forscher-Empathie in Modellklassen als effekte-produzierende Störvariable

Eine Kritik an der Studie lautet, dass sie lediglich nachweise, dass Schüler mit erhöhter Betreuung sich sozial und intellektuell besser entwickeln als Schüler, denen diese Betreuung nicht zuteil wird, jedoch nicht zwangsläufig belege, dass der inhaltliche Gegenstand dieser Betreuung diese bessere Entwicklung verursache.

Es besteht kein Anlass zur Wiederholung: Ich habe mich ausführlich zu Hawthorne- und John Henry-Effekten in der experimentellen (Unterrichts)Forschung geäußert. Grundsätzlicher gefragt: Wie wollte man diesen Zusammenhang von emotionaler Zuwendung und fachlichem Einfluss auseinander dividieren? Insofern ist die Frage rein akademisch, auf die es keine eindeutige Antwort geben kann, zumal schon zu viele unkontrollierbare Störfaktoren in der Faktorenkomplexion „Unterricht“ (Winnefeld) selbst liegen. Wir kennen dieses Phänomen der sozialen und intellektuellen Leistungssteigerung durch eine besondere Empathie im übrigen schon lange als „Pygmalion“-Effekt im Unterricht. Schüler, die eine starke positive Zuwendung durch den Lehrer erfahren, entwickeln sich besser als solche ohne diese oder gar eine solche mit Ablehnung. Die Ergebnisse dieser von Rosenthal und Jakobsen (1968) veröffentlichten Studie12 sind in Methodik und Interpretation wiederholt kritisiert worden. Bekannter noch ist dieser Zusammenhang von Verhaltensweisen des Schülers in Abhängigkeit von Erwartungen, Zuwendungen und Vorurteilen des Lehrers als Self-fulfilling-Prophecy im Bereich der Lehrer-Schüler-Interaktionen. Für unsere Studie kann ich guten Gewissens bilanzieren, dass die Schüler der Kontrollgruppe die gleiche emotionale Sympathie und Aufmerksamkeit von ihren Lehrern wie uns Forschern erfahren haben wie die Schüler der Musikklassen, spürbar an den freudigen Begrüßungsszenen, wenn wir wieder zum Testen in die Kontrollklassen kamen. Von daher sind die positiven Transfer-Effekte des Musiklernens wohl kaum auf das Maß der emotionalen Zuwendung zurückzuführen.

Man kann als weitere Kritik an der Studie nachlesen, dass auch zusätzliche Sport- oder Kunstförderung ähnliche Ergebnisse zeitigen könnten wie eine zusätzliche musikalische Förderung. Daran zweifle ich nicht einen Augenblick. Nur war dieser fachfremde Wirkungsnachweis nicht in meinem Fach- und Forschungsinteresse.

Die in Rezensionen häufig vergessenen Ergebnisse

Ich finde es im Interesse unseres Faches höchst bedauerlich, dass die Vielzahl der empirischen Ergebnisse der Studie etwa zur musikalischen Begabung Sechs- und Siebenjähriger sowie zu deren Entwicklung bis zum 12. Lebensjahr (als Beitrag zur Begabungsforschung im Grundschulalter), zu Konzentrationsleistungen, zu Angstgefühlen und emotionaler Labilität, zur (musikalischen) Kreativität und zum schöpferischen Denken, zur Entwicklung des Selbstwertgefühls von Kindern, zu den allgemeinen Schulleistungen in sog. Hauptfächern so gut wie nicht zur Kenntnis genommen wurden und im Schatten griffiger Intelligenz-Schlagzeilen verkümmerten. Auch die ausführlichen forschungsmethodischen und methodologischen Überlegungen als Beitrag zur Forschungsförderung in der Musikpädagogik traten weitgehend in den Hintergrund.

Der Weg bleibt das Ziel

Was war eigentlich unser Ziel? Wir haben eine Studie in zehnjähriger Forschungsarbeit erstellt und mit erheblichem logistischen Aufwand betrieben, um möglichst viele Facetten der Auswirkungen von erweitertem Musikunterricht an Grundschulen beizukommen. Unsere Motivation war ursprünglich die Einsicht, dass Kinder natürliche musikalische Begabungen besitzen, die möglichst individuell (z.B. im Erlernen eines Instrumentes) gefördert werden sollten. Danach sollte die Wirkung dieser besonderen Förderung auf die Entwicklung dieser Kinder untersucht werden. Diese Modell-Studie nähert sich dem Ideal musikalischer Förderung und deren Evaluation, doch sind gewisse Abstriche schon methodisch unvermeidlich. Das bringt beobachtete Wirkungen umso mehr zur Geltung, da sie ja keineswegs eine ideale Welt widerspiegeln, sondern einen Modellversuch mit allen Vorteilen für die Kinder, aber auch Problemen. Wir können nur ahnen, was wäre, wenn wirklich jedes Kind optimal gefördert werden könnte. Doch das ist leider nicht die Realität. Der Weg bleibt das Ziel.

Mit bildungspolitischer Fragestellung und Motivation habe ich prüfen und ggf. nachweisen wollen, was Kindern in ihrer Persönlichkeitsentwicklung entgehen kann, wenn der Staat sich vor Musik oder besser noch vor einer erweiterten Musikerziehung drückt. Was ist die Folge, wenn Kinder "tat-sächlich" mit Musik umgehen und wenn nicht? Damit möge künftig auch die stereotype Unterstellung entfallen, die Studie wolle Musik in den allgemein bildenden Schulen primär über Transfereffekte legitimieren. Wer dies behauptet, hat die Studie nicht gelesen. So hilfreich Musik auch für das Humanum13 in unserer verhärteten Gesellschaft sein kann, die Ergebnisse dürfen uns nicht dazu verleiten, Musikunterricht seiner fachlichen-idiomatischen-ästhetischen Sinngebung und Zielsetzung zu berauben. Gerade dadurch wirkt Musikerziehung ja so wie sie wirkt! Musikerziehung soll zu allererst die Freude der Kinder an der Musik fördern, als der Freude am ästhetisch Schönen, am Spiel, am kreativen Selbsterleben eben in den Spiel-Räumen der Musik. Wir haben als Musikerzieher unsere Kinder zu dieser Freude an der Musik zu „begaben“.

Dass wir den Musikunterricht in den Schulen nicht für irgendwelche Transfereffekte missbrauchen dürfen, schließt aber nicht aus, in bildungspolitischen Argumentationen selbstbewusst auf diese zu verweisen und die öffentliche Musikerziehung aus dem Odium der Zeitverschwendung und der spaßmachenden Unterhaltung zu befreien.

Die Hauptergebnisse der Studie zeigen nur einen Teil der "Wahrheit", wenngleich sich darin die am besten greifbaren Befunde sammeln lassen. Wichtige Beobachtungen liegen unter der Oberfläche dieser Haupteffekte und sind teilweise am besten qualitativ zu fassen. Daher ist es letztlich so wichtig, auch das zu beachten, was betroffene Schüler, Lehrer und Eltern zu sagen hatten. Und letztlich ist es die Summe all der quantitativen und qualitativen Ergebnisse, die dann – und das ist aussergewöhnlich - politische Wirkung gezeigt haben und immer noch zeigen.14

Das Beispiel einer Kritik: Herbert Bruhn15

Der Rezensent ist - wenn auch nicht in der schulischen Unterrichtspraxis - so doch in empirischer Forschung ausgewiesen. Ich will auf einige seiner Kritikpunkte eingehen, auch um zu zeigen, wie formalistisch und subjektivistisch er kritisiert hat.

  • Formalismus: Herbert Bruhn kritisiert die einleitenden Aphorismen zu Wirkungen der Musik, die nach Absicht des Autors lediglich eine feuilletonistische Einstimmung in die Bandbreite von Meinungen zu positiven Transfers aber auch zu Gefahren von Musikeinflüssen bewirken sollten. Die Sache selbst braucht keine Aphorismen. Aber als Spannungsinduktion für den Leser, was sich an den zitierten Wirkungen in der Studie wohl nachweisen ließe und was nicht, hatten sie ihre sinnvolle Funktion; auch um an wenigen Auswahlzitaten deutlich zu machen, welche negativen Effekte der Umgang mit Musik haben kann.

  • Unklar bleibt mir, warum ich – nach Bruhn - eine kluge Frau wie die seinerzeitige Herausgeberin von DIE ZEIT, Gräfin M. von Dönhoff, nicht zitieren darf, wenn sie zu Fragen der Gewalt zeitkritisch wie kompetent Stellung bezogen hat. Bruhn lässt offensichtlich im Ghetto eines formalistischen Denkens nur Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Studien als „reine“ Wissenschaftstexte zu. Studien und ihre Hypothesen speisen sich aber auch aus den Besenkammern des Alltags und nicht nur aus den Spiegelsälen der Forschungsschlösser. Impulse und Ansichten aus dem gelebten Leben können der Forschung und der Interpretation ihrer Ergebnisse nur willkommen sein.

  • Formalismus findet sich auch in der Kritik Bruhns zum Vorwort der "Geldgeberin" BMBF (offensichtlich ein Frustbegriff des Rezensenten) sowie über Danksagungen. Beides sind mir Gebote des Anstandes und ganz selbstverständlich am Ende einer material und personal aufwendigen Förderzeit.

  • Bruhn empfiehlt uns methodische Alternativen, so etwa LISREL als Strukturgleichungsmodell - als hätte ich darüber nicht nachgedacht. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Psychologie der Universität Frankfurt (Forschungsmethodik und Forschungsmethodologie) und ständige persönliche Beratungskontakte zu einem ausgewiesenen Experten für methodische Forschungsfragen (Prof. Dr. Wittmann, Universität Mannheim), haben deutlich gemacht, dass sich LISREL angesichts unseres Designs und eines enormen Datencorpus’ (über 1 Mio Daten) als nicht sinnvoll angeboten hat. Ich habe trotz ursprünglicher Intention wieder Abstand von diesem Verfahren genommen. Bruhns Empfehlung suggeriert, dass er selbst wohl von einem solchen Verfahren Kenntnis hat, dass ihm aber die Probleme des Verfahrens im Kontext unserer Studie nicht bewusst waren, ja gar nicht bewusst sein konnten. Dennoch urteilt er.

  • Bruhn kritisiert, dass wir die Qualität des Musikunterrichtes an den Projektschulen nicht evaluiert haben. Hier zeigt sich, dass Bruhn die Probleme von Forschung in der Unterrichtspraxis nicht kennt (z.B. die Empfindlichkeit der Lehrer gegenüber externer Bewertung) und somit die Mühen eines Schulalltags und einer praxiseingetauchten Forschung nicht annähernd bewerten kann. Und was bitte ist „guter“ Unterricht? Man stelle sich einmal vor: Forscher bewerten die Qualität von Unterricht - das wäre das Ende der Mitarbeitsbereitschaft aller Lehrer und damit das Ende des Projektes gewesen. Bruhn'sche Gedankenexperimente sind schul- und weltfremd, weit weg von Menschenkenntnis und Alltagspsychologie.

  • In diesen Kontext passt der Vorwurf der zu kleinen "Kontrollgruppe". Kann sich Bruhn auch nur annähernd ausmalen, welche Überzeugungsmühen es gekostet hat, in Berlin auch nur zwei Kontrollgruppen für zunächst 3 und dann insgesamt 6 Jahre (!) zu gewinnen. Es ist eine undankbare Aufgabe von Kontrollgruppen, sich für die Messung von Effekten in einer Modellgruppe zur Verfügung zu stellen. Dass wir dennoch zwei Klassen als Kontrollgruppe fanden, war ein hoher strategischer Aufwand und Erfolg, der nur dank der Unterstützung durch den Berliner Senat für Schule, durch den Berliner Datenschutzbeauftragten, durch die Lehrer der Schulen und vielleicht auch durch unser Verhandlungsgeschick in heiß diskutierten Elternversammlungen erreicht werden konnte.

  • Dass Bruhn unsere Forschungsergebnisse "deutlich überinterpretiert" sieht, kann er so bewerten. Dass er aber diese Kritik generalisiert in der Feststellung: "Die Seriosität 'der' (Hervorhebung Bastian) wissenschaftlichen Zitate selbst ist zudem nicht gewährleistet" disqualifiziert ihn selbst.

  • Als projektverantwortlicher Autor kann ich dispositional keine Unübersichtlichkeit in der Anlage der Studie erkennen, auch keine Vermischung von theoretischen und methodischen Ausführungen, wie Bruhn sie bemängelt. Die Gliederung der Studie folgt üblichen empirischen Standards, gelegentliche Variationen sind gerade das Besondere, um nicht in routinierten Schemata zu erstarren. Die Kompliziertheit unserer Studie und die Differenziertheit unserer Resultate spiegeln sich im Aufbau des Buches. Natürlich ist es nicht leicht, bei so vielen Einzelbefunden den Überblick zu behalten. Man kann es aber auch so sehen, dass aus dem Dickicht der Beziehungen zwischen den zahlreichen Variablen etwas anderes hervortritt, als die herbeigesehnten einfachen Kausalitäten. Ist es nur eine Geschmacksfrage, ob "systemische Vernetzung" in "alles hängt mit allem zusammen" gewendet werden kann?

  • Interpretation von Daten geht für mich prinzipiell über eine bloße Deskription hinaus. Bruhn verbietet diese apodiktisch. Ich habe ein Forscherleben lang nie nur beschreiben wollen (wie langweilig!), was ist, sondern ich habe versucht zu erklären, ja auch zu bewerten und gängige Praxis zu verändern, ganz im Sinne eines kritischen Denkens. Hier habe ich einen grundsätzlichen wissenschaftspragmatischen Dissens zu Bruhn. "Interpretationen" sind es, die manche Veränderung in der politischen Landschaft bewirkt haben und noch bewirken werden. Dies gilt auch für unsere Qualifizierung von Leistungen etwa bei den Schulleistungstests in den Hauptfächern. Die qualitative Gruppierung in Gruppen (unterdurchschnittlich - durchschnittlich – überdurch-schnittlich) scheint mir geradezu geeignet, die in der empirischen Forschung üblichen Mittelwertsberechnungen mit ihren gleichmacherischen Effekten zu vermeiden. Gegen diese Intention werden mir von Bruhn Nivellierungen unterstellt. Wer meine Forschungsarbeiten kennt, der weiß, dass das Individuum in seiner sozialpsychologischen und soziokulturellen Bedingtheit stets im Fokus meines Erkenntnisinteresses stand und ich dafür geeignete Erhebungsverfahren und statistische Analyseverfahren eingesetzt habe (z.B. die Methode der Clusteranalyse bereits in meiner Studie „Neue Musik im Schülerurteil, Mainz: Schott 1980).

  • Die Kritik, wir hätten absichtsvoll schwierig geschrieben bzw. schwierige mathematische Formeln integriert, um Kritik vorzubeugen, bedarf keines Kommentars.

  • In dieses Bild passen die Mäkeleien an Erklärungen zu statistischen Kenn- und Prüfgrößen. Sie waren von den Autoren nicht vorgesehen, sondern vielmehr vom Verlag für unkundige Leser erwünscht. Eine Würdigung des methodischen Apparates anstatt einer manifesten pauschalen Verunglimpfung des Methodenpluralismus möchte ich mir in einer fairen, auf Objektivität bedachten Rezension schon eher vorstellen. Ich erinnere mich, wie viel alljährliche Arbeit allein die Entwicklung und Evaluation von eigenen Schulleistungstests durch Mitarbeiter Adam Kormann in den Hauptfächern Deutsch, Mathematik, Englisch, Geometrie für jede Schulklasse bereitet hat.

Eines ist sicher richtig an Bruhns Rezension: Es war ihm – so Bruhn selbst- "unmöglich, den Überblick zu behalten". Ich möchte mit einem Gedanken von Egon Friedell in seinen Essays in „Vom Schaltwerk der Gedanken“ ganz allgemein schließen ohne Bruhn hier im Visier zu haben: „Eine Sache heruntermachen ist das müheloseste und zugleich dankbarste Geschäft, dem ein Mensch sich hingeben kann; er hat es leicht, auf diesem Gebiet Erfolge zu erzielen, denn er findet in der unserer Spezies nun einmal eigentümlichen Obtrektationssucht einen stets hilfreichen Bundesgenossen“. 16

Freilich gibt es sie auch: Rezensionen mit Anspruch und Niveau, die in sachlichem und offenem Diskurs nachfragen, sich in das Gedankengebäude der Forscher einfühlen, Ergebnisse an den Zielen einer Studie messen, die alternativ und weiter denken, usw. usw. Michael Dartsch ist eine solche gelungen17, weil sie Entscheidungen der Forscher mitdenkt und vorurteilsfrei reflektiert, auch die kritischen Anmerkungen von Maria Spychiger18 sind konstitutiv und lesenswert, weil sie aus eigener Erfahrung um die Probleme und die Kompliziertheit der Transferforschung weiß und diese valider einschätzen kann.

Epilog

Die Studie ‚Musikerziehung und ihre Wirkung’ trifft auch einen Nerv des gesellschaftspolitischen Gewissens und des Gefühls, welche kulturellen Werte wir uns eigentlich leisten wollen. In einer durch und durch materialistischen Gesellschaft sind kulturelle Werte in einer Weise marginalisiert, so dass ein Rechtfertigungsdruck nicht zu leugnen ist. Jedem Kritiker sollte klar sein, dass Musik und andere Künste nicht mehr allein aus einer Selbstverständlichkeit heraus legitimiert werden können. Idealismus in diesem Sinne in Ehren, doch es wird auch ein Pragmatismus benötigt, wenn die idealistischen Argumentationen versagen und einmal mehr der Musik- und Kunstunterricht gekürzt wird. Es sind ja ganze Bände mit teils klugen, teils schwachsinnigen Argumenten zu unserer Studie geschrieben worden, ja eine Vielzahl von Wissenschaftlichen Hausarbeiten, von Magister- und Diplomarbeiten, angeblich – mir nicht vorstellbar – sogar eine Dissertation, die die so genannte „Bastian“-Studie zum Gegenstand fachlichen Diskurses haben. „Vielmehr entlarven sich jene Kritiker selbst als weltfremd, die einerseits über die Inflation der Lebensmittelpreise besorgt sind, andererseits aber nicht einsehen können oder wollen, dass auch Wirkungen von kulturellen Werten im Verhalten von Menschen sichtbar und messbar sein können. Gerade in einem Neben- und Randfach wie die Musik mit ernsthaften Überlebenssorgen sollte sich in besonderer Weise in der Frage und in weiteren Forschungsprojekten engagieren, ob kulturelle Bildung nicht messbare Effekte auf die Schulleistung von Kindern hat. Letztlich bezahlen wir für alles – und da kommt unweigerlich eine politische Diskussion ins Spiel darüber, was wir uns leisten wollen. Oder sollen wir ohne Debatte hinnehmen, dass sich z. B. das Land Rheinland-Pfalz am Fritz-Walter-Stadion mit Millionenbürgschaften engagiert und gleichzeitig den Schülern in den allgemein bildenden Schulen Schmalkost an Kunst und Musik serviert?“19 Weitere Beispiele für die Verschwendung öffentlicher Gelder in kaum vorstellbaren Größenordnungen finden sich in den Jahresberichten des Bundes der Steuerzahler. Ein Bruchteil des jährlich verschwendeten Geldes würde genügen, um jedem Kind in den Grundschulen das Lernen eines Instrumentes zu ermöglichen. Und wenn Musiklehrer in den Grundschulen fehlen, dann hat in aller Regel der Staat selbst durch eine falsche und restriktive Hochschulpolitik zuvor dafür gesorgt. Dass zukünftig zum Beispiel Musiklehrer aller Schularten an der Hochschule für Musik in Frankfurt - wider alle fachliche Argumentationslogik gegen einen fusionsbesessenen Präsidenten der Hochschule und einen an der Musiklehrerausbildung uninteressierten Vizepräsidenten der Universität - erfolgen wird, halte ich angesichts des derzeitigen Kompetenz– und Personalmangels an der Frankfurter Musikhochschule kurzfristig für eine gravierende Fehlentscheidung, langfristig für eine Katastrophe in der hessischen Musiklehrerausbildung und in Folge in der Praxis des Musikunterrichts an Grund- und Hautschulen.

Das Credo des Autors bleibt von allen Kritiken unbeeinflusst: Selbstzweck, Wertfreiheit und Autonomie von Forschung sind unantastbare Werte, doch Forschung sollte auch einen weitergehenden Sinn haben: Sie soll der Gesellschaft dienen und politisch verwertbar sein. (Zu) viele Kinder haben sozialbedingt keine Chance auf eine qualifizierte Musikerziehung. Als Wissenschaftler und Forscher möchte ich meiner Umgebung nicht die Chance geben, das akademische vom politischen Engagement zu trennen. Im Dienste der Musik möchte ich mich für eine kinder- und jugendfreundliche Bildungs- und Kulturpolitik, eine Politik mit Musik, einsetzen.

Noch unterstelle ich, dass auch meine Kritiker dies wollen. Doch sagen diese Kritiker, wie das zu erreichen ist? Nein, viele sagen nur im Negativen und manche in Sprechblasen, wie es angeblich nicht geht. Und das ist genau der falsche Ansatz.

Die Frage ist doch: Wie kann ich in einer Gesellschaft, in der Musik soviel Zuneigung entgegen gebracht wird („Ohne Musik kann ich nicht sein“), wie kann ich genau diesem Gefühl einen angemessenen Rahmen bieten? Was kann die Schule dazu beitragen? Sicherlich nicht alles, doch insofern deren Verantwortung gefragt ist, werden Studien wie die Berlin-Studie eben benötigt wie nichts anderes und sie ist in der Praxis draußen dankbar aufgenommen worden, hat sie doch zum Renommee des Faches Musik und zu neuem Selbstbewusstsein der Musiklehrer beigetragen.20

Es ist die kleine Stimme der zehnjährigen Flötistin, die alles auf den Punkt bringt. Ein Kind möchte musizieren und beansprucht einen Freiraum dafür - und sie findet ihn nicht! Nicht mehr und nicht weniger. Oder es ist die Frage der kleinen Petra an ihre Lehrerin nach einer Ensembleprobe: Wie kommt es, dass wir nach dem Musizieren immer so friedlich sind?

Dafür lohnt es sich zu kämpfen und dafür haben wir soviel Aufwand betrieben.

Anmerkungen:

1H.G. Bastian (2000): Musikerziehung und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen, Mainz: Schott. Unter Mitarbeit von Adam Kormann, Roland Hafen, Martin Koch; gefördert vom BMBF
2 Die nominelle Fixierung der Studie als „Bastian-Studie“ bedaure ich sehr, denn mit Adam Kormann, Roland Hafen und Martin Koch standen mir gleichermaßen engagierte Mitarbeiter zur Seite, die es nicht verdient haben, im Schatten eines Namens zu verblassen. Wir waren ein bestens eingespieltes Team, jeder einzelne hatte seine besonderen Aufgaben und jeder hat damit auch seine spezifischen Verdienste an der Studie. Eigentlich hätten wir als Autorenkollektiv publizieren müssen, was aus verlegerischen Gründen nicht gewünscht war.
3 J. Vogt/ Chr. Rolle: Von Wollmilchsäuen in Käfighaltung. Zum Problem des wissenschaftlichen Nachwuchses in der Musikpädagogik, in: nmz, 6/2002, S.55
4 Siehe die Warnung von Heinz Antholz: Die Streitkultur wahren. Zum Leserbrief von Ivo Csampai, nmz 6/2001, S. 12
5 E. Vanecek: Was vermehrt vermehrter Musikunterricht?, in: Diskussion: Musikpädagogik 12/2001, S. 28-35
6 Ein Paradebeispiel für eine Ansammlung nachweislicher Falschaussagen ist die „Kritik“ von M. Saxer in: Üben & Musizieren, 4/2000; vgl meine Replik in: 5/2000, S. 65
7 Hier und da konnte man Kritik am Taschenbuch „Kinder optimal fördern – mit Musik“ (2001) lesen. Doch Vorsicht: Im Ghetto eitler Fachforschung, die sich an „autopoetischer Semiotik“ geradezu manna-haft labt und das anerkennende Schulterklopfen im Expertenkreis sucht. Damit allein erreicht man die Menschen nicht. Um unserer Kinder und Schulen willen hat man doch letztlich und zum Beispiel geforscht, also sollte die Botschaft der Forschungsergebnisse auch dort ankommen., an der Basis, nämlich bei Erziehern, Lehrern, Kindern und Jugendlichen, nicht zuletzt bei politischen Entscheidungsträgern. Übrigens: Leicht zu schreiben ist ein schweres Unterfangen, schweres Schreiben dagegen ein leichtes. Dass das Taschenbuch angekommen ist, belegen nicht nur die 4. Auflage und die Verkaufszahlen, sondern auch die Übersetzungen (Stand 12/2007) in Dänemark, Holland, Italien, England, Brasilien, China. Weitere Länder und Sprachen sind in Planung.
9 DIE ZEIT 15/2000: Musik macht klug. Im Gespräch mit Claus Spahn
10 Bastian, Hans Günther (2001), „Die Substanz – vom Etikettenschwindel verdeckt. Hans Günther Bastian über seine Langzeitstudie zur musikalischen Bildung“, in: nmz, Jg. 50, Nr. 4, S. 1+8.
11 Jüngst in: Eckart Altenmüller (2006): Neuronale Auswirkungen musikalischen Lernens im Kindes- und Jugendalter und Transfereffekte auf Intelligenzleistungen, in: BMBF (Hg.): Macht Mozart schlau? Die Förderung kognitiver Kompetenzen durch Musik, Bonn, S. 67.
12 Rosenthal, R., & Jacobson, L. (1968): Pygmalion in the classroom. New York: Holt, Rinehart, & Winston
13 Vgl. Bastian, HG./ Kreutz, G. (Hg.)(2003): Musik und Humanität. Interdisziplinäre Grundlagen für (musikalische) Erziehung und Bildung, Schott: Mainz
14 Bildungspolitische und fachpädagogische Wirkungen der Studie sind nachlesbar auf der Link-Seite meiner Homepage: www.hgbastian.de
15 Bruhn, Herbert (2001), „Hans Günther Bastian (2000). Musik(erziehung) und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen.“, Rezension in: Macht Musik wirklich klüger? – Musikalisches Lernen und Transfereffekte, hrsg. v. H. Gembris, R.-D. Kraemer, G. Maas, Augsburg: Wißner (= Forum Musikpädagogik, Bd. 44; Musikpädagogischer Forschungsbericht, Bd. 8), S. 271-275
16 Egon Friedell (2007): Vom Schaltwerk der Gedanken. Ausgewählte Essays zu Geschichte, Politik, Philosophie, Religion, Theater und Literatur (hrsg. von D. Keel und D. Kampa), Zürich: Diogenes, S. 268
18 Spychiger, Maria (2001a), „Was bewirkt Musik?“, in: Macht Musik wirklich klüger? – Musikalisches Lernen und Transfereffekte, hrsg. v. H. Gembris, R.-D. Kraemer, G. Maas, Augsburg: Wißner (= Forum Musikpädagogik, Bd. 44; Musikpädagogischer Forschungsbericht, Bd. 8), S. 13-37; dies.: (2001b), „Antwort auf Hans Günther Bastian & Adam Kormann ´Transfer im musikpädagogischen Diskurs´“, in: Macht Musik wirklich klüger? – Musikalisches Lernen und Transfereffekte, hrsg. v. H. Gembris, R.-D. Kraemer, G. Maas, Augsburg: Wißner (= Forum Musikpädagogik, Bd. 44; Musikpädagogischer Forschungsbericht, Bd. 8), S. 67-69.
19 G. Kreutz in Korrespondenz mit dem Autor
20 Vgl. Linkseite Wirkungen der Studie auf der homepage: www.hgbastian.de

 

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