„Alma Mahler und ihre Kerle“, „Die Schicksalssymphonie – Entscheidung unter Flutlicht“, „Heavy Metal – Eisenharte Töne“: So kann eine Wochenplanung der Sendereihe SMS – Short Music Stories auf SWR2 aussehen. Klassik, Jazz und Pop, grundsätzlich ist jedes Thema möglich. Nur gut und anschaulich erzählt in zehn Minuten muss es sein, eben so, dass nicht nur Musikexperten, sondern auch -liebhaber daran Freude haben.
Eine Art Experiment, für das der SWR möglichst junge und unverbrauchte Autoren beschäftigt. Den für seine Zwecke idealen Kooperationspartner hat der SWR im LernRadio der Musikhochschule Karlsruhe gefunden, das den Aufbaustudiengang Rundfunk-Musikjournalismus anbietet. Innerhalb von vier Semestern lernen die Studierenden, die in den meisten Fällen bereits ein Musikstudium absolviert haben, das Rundfunkmachen, von der Planung bis zur fertigen Sendung.
Die Nachwuchsjournalisten, so die Idee, sollen das Kulturprogramm SWR2 auch für ein jüngeres Publikum interessant machen. Die Zusammenarbeit mit der nachrückenden Generation hatte allerdings auch unerwartete Konsequenzen: Aus der ursprünglich geplanten Bildungsreihe wurde ein Bilderbogen, erzählt die verantwortliche Redakteurin von SWR2 Dr. Lotte Thaler. „Eigentlich sollte es ja eine Art Kurzgeschichte der Musik oder auch eine Art Einführung in die Grundbegriffe der Musik sein. Und daraus hat sich nun etwas ganz Anderes entwickelt, nämlich Stories, also Geschichten über Musik.“ Die Reihe spiegele auch ein erweitertes Verständnis von Musikgeschichte wider. „Das, was wir vielleicht vor 30 Jahren uns vorgestellt haben von Wertigkeit in der Musikgeschichte, das hat sich verändert. Wir sind viel weniger nur klassikorientiert; ein Musikliebhaber ist heute sehr viel breiter in seinem Musikgeschmack.“
In der Praxis heißt das: Es laufen 250 Sendungen zu je knapp zehn Minuten. Ein Jahr lang muss die Sendezeit montags bis freitags zwischen 17.50 und 18.00 Uhr auf SWR2 bestückt werden. Zuviel für die knapp achtzehn Studierenden des LernRadios. Also sind auch die „Ehemaligen“ an dem Projekt beteiligt, die Absolventinnen und Absolventen des LernRadios, die mittlerweile schon längst als Musikjournalisten im Geschäft sind. Manche Stories werden besonders aufwändig produziert, denn die Vielfalt der Themen reizt vor allem die noch Studierenden zur Entfaltung ihres persönlichen Gestaltungspotenzials. Die Geschichten handeln von Komponisten oder Interpreten, Musikstilen oder Schauplätzen, Instrumenten oder Musikerberufen. So unterschiedlich wie die Themen ist auch ihre Verarbeitung: Eine fiktive Live-Reportage lässt das Woodstock-Festival anno 1969 noch einmal aufleben, Fußballreporter Günther Koch kommentiert den ersten Satz von Beethovens Schicksalssymphonie, die Kunst der Variation wird in einer Kochsendung vorgestellt. „Die größte Schwierigkeit ist der eigene Anspruch“, meint denn auch LernRadio-Student und SMS-Autor Ben Alber. „Wir legen natürlich großen Wert darauf, uns mit diesen Themen intensiv auseinander zu setzen, und die Menge an Arbeit steht da nicht mehr in Relation zu dem Produkt. Diese zehn Minuten sind ja ein relativ kleines Format.“
Die Produktion
Im Hörspielstudio des Südwestrundfunks Karlsruhe herrscht eine konzentrierte Arbeitsatmosphäre. Der Techniker arrangiert die sauber geschnittenen Audiofiles auf dem Bildschirm des digitalen Schnittplatzes. Kurz vorher haben Sprecherin und Sprecher das Studio verlassen. Die Autorin hat zu Händels Geburtstag eine Spielszene entworfen: ein Paar besucht im London des 18. Jahrhunderts eine Vorstellung von Händels „Xerxes“. Mittels gesprochener Dialogszenen, Musik und Geräuschen entsteht ein kleines Hörspiel; die technische Umsetzung dieser schönen Idee kann schon einmal einen Arbeitstag in Anspruch nehmen. Die kleinen Kunstwerke erfordern auch noch nach Fertigstellung des Manuskriptes einen erheblichen Zeit- und Arbeitsaufwand, wenn das Produkt ästhetisch ansprechen soll. Und die Studierenden, die im LernRadio alles selbst produzieren, müssen sich erst an die Arbeit mit einem Techniker gewöhnen.
Die Motivation
Es ist erfreulich und überraschend, wie gut die teilweise abwegig erscheinenden Ansätze im Radio funktionieren. Ben Alber ist sich wie die anderen Studierenden auch der Chancen bewusst, die das Projekt SMS bereithält. „Es ist so inspirierend, was jeder da für eine subjektive Herangehensweise hat. Da kriegt man viele Ideen, wie man in Zukunft mit seiner Arbeit auch umgehen möchte.“
Alber selbst hat sich in seinem Beitrag mit der Reise des Blues „von Timbuktu nach Tennessee“ beschäftigt, Studienkollegin Deborah Schamuhn, mit sechzehn begeisterte Nirvana-Hörerin, hat für SMS ein soziologisch angehauchtes Feature über das Phänomen Grunge verfasst. Und Felix von Bally, ein leidenschaftlicher Independent-Fan, bearbeitete für seinen Beitrag über Produzenten von Independent-Musik sechs Stunden (!) Interviewmaterial. Das persönliche Musikerlebnis kennzeichnet viele der Beiträge. So liegt es nahe, dass etwa eine Geigerin den Klang „ihres“ Instrumentes erklärt, eine Sängerin sich mit dem Phänomen Stimme auseinander setzt.
Ist das vielleicht das Kulturradio von morgen? Die Beiträge sind trotz der Fachkompetenz ihrer Verfasser jedenfalls weniger von der Musikwissenschaft geprägt als von einer persönlichen Begeisterung für Musik. In ihrer Machart orientieren sie sich an der Sprache des aktuellen Journalismus, an der Kleinteiligkeit des Popradios und an der Farbigkeit des Hörspiels oder der akustischen Kunst. Die Vielfalt der Themen entspricht den Interessen einer zukünftigen Hörergeneration. Für sie stehen Abonnementkonzerte neben einem Rockfestival oder einem Weltmusikevent. Entscheidend ist, was die Musik erzählt und in welchem Umfeld sie wirkt, nicht, ob sie ausschließlich als „kulturelles Erbe“ gilt.
Die Hörer
Für manche SWR2-Hörer ist dieser Umgang mit Musik ungewohnt. „Woodstock im SWR2?“ fragt eine Hörerin konsterniert im Gästebuch auf swr.de und führt weiter aus: „Mein Mann ist zufällig dort vorbeigekommen und er erinnert sich nur mit Ekel an das, was er dort gesehen, gehört und erlebt hat. Unwürdig – dieses ‚Ereignis’ im SWR2 zu erwähnen!“ Aber solche Reaktionen bilden die Ausnahme. Die meisten Hörer sind positiv überrascht von dem neuen Programmelement. SMS sei zum Autofahren zu gefährlich, schreibt ein Hörer, nachdem er vor Lachen beinahe in den Graben gefahren wäre. Eine SMS-Reporterin hatte den „jungen Stockhausen“ (dargestellt von einem Studienkollegen) in den 50er-Jahren besucht.
Das Problem der Sendereihe ist, dass die jungen Hörer, die angesprochen werden sollen, kaum zufällig um 17.50 Uhr das SWR-Kulturradio einschalten. Zwar laufen ausgewählte Sendungen auch im jungen SWR-Programm „Das Ding“, dessen Redaktionsleiter Dr. Wolfgang Gushurst am Projekt beteiligt ist. Die meisten „jugendlichen“ Beiträge erreichen aber eher gestandene Musikfreunde als wirkliche Einsteiger. Deshalb soll das SMS-Projekt nicht mit der Ausstrahlung in SWR2 aufhören. Auch der Bayerische Rundfunk, dessen Redakteur Wolf Loeckle ebenfalls zu den Betreuern von SMS gehört, möchte einen Teil der Beiträge übernehmen. Außerdem wollen die SMS-Macher, allen voran der Leiter des Instituts LernRadio an der Musikhochschule Karlsruhe, Prof. Jürgen Christ, die Sendungen dauerhaft verfügbar machen. Auf einer eigenen Internetseite werden sämtliche Beiträge online bereitgestellt. Hintergrundinformationen, Web-links und CD-Tipps machen es dem Nutzer leicht, selbstständig weiter zu recherchieren.
Die gesamte Reihe soll auf DVD erscheinen und damit Lehrern an allgemeinbildenden Schulen als Unterrichtsmaterial zur Verfügung stehen. Dieser pädagogische Aspekt erklärt auch das umfangreiche Engagement der PwC-Stiftung Jugend-Bildung-Kultur in Deutschland beim SMS-Projekt. Weitere Unterstützung erfährt das Projekt durch den Deutschen Musikrat und den Verband Deutscher Schulmusiker (VDS).
SMS – Short Music Stories im Programm SWR2, montags bis freitags, 17.50 – 18.00 Uhr; Informationen unter www.swr.de/swr2/sendungen/sms