Seit 2003 ist Enjott Schneider Mitglied des Aufsichtsrates der GEMA. Seit dem 8. März 2012 bekleidet er nun deren Vorsitz. Schneider folgt damit Jörg Evers, der sein Amt aus persönlichen Gründen niederlegte, dem Aufsichtsrat jedoch als Mitglied erhalten bleiben wird. Enjott Schneider hat seit 1979 eine Professur an der Musikhochschule München inne, zunächst für Musiktheorie und kirchenmusikalische Komposition, seit 1996 für Filmkomposition. Er ist Urheber von zahlreichen Filmmusiken, unter anderem für „Die Flucht“, „Jahrestage“ und „Nicht alle waren Mörder“. Zudem genießt er Renommee als Komponist großer Orchester- und Bühnenwerke sowie von Solokonzerten. Zur Uraufführung kommen in diesem Jahr unter anderem seine 5. Sinfonie und das Gallus-Oratorium „Leben in der Stille“. Er ist „composer in residence“ beim Beijing Modern Musikfestival 2012. nmz-Herausgeber Theo Geißler sprach mit Schneider über seine neue Funktion, das Urheberrecht im digitalen Kontext und die Zukunft der GEMA.
neue musikzeitung: Herr Schneider, Sie sind seit etlichen Jahren im Aufsichtsrat der GEMA. Was hat Sie motiviert, nun an die Spitze dieses Gremiums zu gehen?
Enjott Schneider: Jörg Ewers ist aus persönlichen Gründen (er hat sie eben in den „Informationen“ 1/2012 des Deutschen Komponistenvertbandes detailliert) zurücktreten. Da war nach kurzer Diskussion ich „an der Reihe“, denn Aufsichtsratsvorsitzender muss einer der (nur) sechs Komponistenvertreter werden.
nmz: Sie sind ein Komponist mit breitem kompositorischem Spektrum, aber jedenfalls dem sogenannten E-Bereich zuzuordnen. Ist Ihr „Karrieresprung“ angesichts der Zusammensetzung der GEMA und des Aufsichtsrates nicht ein Wunder?
Schneider: Es klingt überraschend. Jedoch spielt die U-/E-Unterscheidung angesichts der Internationalisierung, der Online-Problematik und der Einengungen in strenge Gesetzesvorgaben, denen Verwertungsgesellschaften heute ausgesetzt sind, keine Rolle mehr. Ich fühle ich mich sowieso grenzüberschreitend: Durch meine Filmmusiktätigkeit bin ich mit den allen Problemen des digitalen Zeitalters und aggressiv gewordenen Nutzungen in den Medien direkt befasst.
nmz: Sie sind ein Mensch mit einer sehr ausgeprägten eigenen Meinung. Zwingt Sie die neue Funktion eventuell dazu, Kompromisse einzugehen? Kommt der Funktionsträger mit der Privatperson in Konflikt?
Schneider: Ich hoffe nicht. Meine Meinung gebe ich nach wie vor kund und versuche – wie schon zuvor – immer alle Interessen im solidarischen Ganzen zu sehen. Es geht heute um die Erhaltung genereller Werte wie zum Beispiel des geistigen Eigentums, unabhängig von qualitativen Differenzierungen.
nmz: Man hat den Eindruck, dass zurzeit eine Art Wurm in der Urheberrechtsdebatte steckt. Wo lokalisieren Sie diesen?
Schneider: Es wird zurzeit sehr gerne über die Piraten geschimpft – dass diese das Urheberrecht in der gängigen Form ablehnten. Ich meine dagegen, dass die Piraten nur diejenigen sind, die eine Entwicklung aufgegriffen und populistisch benutzt haben haben. Der Wurm ist nämlich, dass im digitalen Zeitalter alles, was Kreativität und Kulturgut betrifft, zum bloßen unstofflichen Daten-File schrumpft. Der Wert von Eigentum hat im digitalen Zeitalter plötzlich an Physis verloren. Das leitet nicht bloß zum Diebstahl, sondern überhaupt zu minderer Wertschätzung. Die „Nichtstofflichkeit“ von Kreativität hat nicht nur alles leichter transportierbar und kopierbar, sondern tendenziell wertlos gemacht. Wenn etwas in 1.000 Kopien existier, ist es nun mal nicht mehr so wertvoll wie das Unikat.
nmz: Hat die GEMA in den letzten Jahren vielleicht etwas zu viel Wert auf materielle Aspekte gelegt und es ein wenig versäumt, das Immaterielle in seinem Wert ins gesellschaftliche Bewusstsein zu heben?
Schneider: Ich glaube nicht. Die GEMA ist international unter den Schwestergesellschaften technisch am weitesten, was Komplexität der Datenerfassung und auch die Differenzierung von Onlineabrechnungen mit den großen Filehostern und Konzernen betrifft. Wir haben die differenziertesten und für Autoren günstigsten Tarife, gerade weil wir nicht „verstaubt“ und schon früh sehr gut aufgestellt waren. Andere Verwertungsgesellschaften, das darf ich unbescheiden sagen, beneiden uns wegen des technisches Know-how und unserer IT-Systeme.
nmz: Sind die Piraten mit ihren disparaten Forderungen auf dem falschen Kaper-Dampfer?
Schneider: Unterm Strich: Ja. Die Piraten sind zunächst jedoch eine feine Geschichte, da es immer gut ist, wenn in einer Gesellschaft Krusten aufgebrochen und ungewohnte Horizonte sichtbar gemacht werden. Allerdings ist es nun schnell ein Aufbruch „nach hinten“ geworden, ein Neo-Liberalismus: „Internet for free“ ( symbolisiert mit Marken wie Google, YouTube, Facebook, Rapidshare u.a.) erzielt Gewinne mit den Inhalten von Dritten, die nicht lizenziert sind. Die Urheber bekommen in der Regel gar nichts oder im Bestfall Unangemessenes. In den letzten Monaten hat sich erwiesen, dass die Piraten in diesem Kontext die Lobbyarbeit für die Großkonzerne betreiben. Wenn der „Piraten“-Begriff als „Freibeuter“, „Robin Hood der Meere“ ursprünglich Unterton eines „Kampfs für die Entrechteten“ war, so kann ich nicht nachvollziehen, dass diese Partei und die vor allem jugendlichen Zuläufer eigentlich für die Starken und die Großkonzerne kämpfen. Vielmehr ist es so geworden, dass gerade die GEMA zunehmend die Robin Hood-Mentalität eines Kämpfens für die einzelnen, oft „kleinen“ Autoren und Verleger gegen die erdrückende Macht von Daten-Konzernen und Majors verkörpert.
nmz: Soeben hat die GEMA vor einem Hamburger Gericht einen Sieg über Youtube erstritten. Ganze zwölf Werke darf das Portal nicht mehr einstellen. Ein Triumph?
Schneider: Mühsame Treppenschritte in einer sachlichen Entwicklung kann man nicht triumphal feiern. Es war jedoch – für alle Kreativen weltweit – ein Meilenstein, denn man hat YouTube eine grundsätzliche Haftung für die eingestellten Inhalte Dritter gerichtlich bestätigt. Die Urheber-Sichtweise der GEMA wurde gerichtlich voll bestätigt. Youtube muß jetzt zumutbare Maßnahmen zum Schutz des geistigen Eigentums vornehmen.
nmz: Warum kommt man den „YouTubes“ und „Facebooks“ dieser Welt nicht bei?
Schneider: Weil es extrem schick ist, mit der Leichtigkeit eines kleinen Handys durch die Welt zu gehen, in den Social-Network-Medien zu kommunizieren und sekundenschnell ohne Bezahlung zu konsumieren. Die „YouTubes“ und „Googles“ werden massenhaft genutzt, deren Datenvorrat schwillt ins Gigantische an. Da werden pro Tag 200.000 neue Videos in Netz gestellt. Selbst eine kleine Firma wie Rapidshare, die in der Schweiz sitzen, haben einen Datenverkehr, der jenen der kompletten Schweiz inklusive aller Schweizer Banken übersteigt. All for free! Diese Schnäppchenmentalität des „Geiz ist geil!“ (bislang immer nur dem Zerrbild eines Spießers zugestanden) kann auch die GEMA nicht bremsen.
nmz: Wenn man mit unserem europäischen Verständnis von Urheberrecht diese Rechteverletzer nicht stoppt, wäre dann eine Kulturflatrate vielleicht eine Alternative, die gesetzlich eine bestimmte Abgabenhöhe auf solche Angebote ermöglicht?
Schneider: Die Kulturflatrate kommt nicht infrage. Zum einen wegen der geringen Höhe der Flatrate: bei einem Musikstück oder Film kämen bei den Urhebern, Leistungsschutzberechtigten und Verlegern nur noch Milli-Centbeträge an. Die sogenannten „Unterhaltungsindustrie“, in Deutschland nahezu das bedeutendste Wirtschaftssegment, würde kollabieren.Etwa die TV- und Filmindustrie mit ihren Studios, Kameraleuten, Schauspielern, Cuttern, Zulieferfirmen, die Musikbranche mit all den Kreativen und kleinen Firmen im Hintergrund. Zweiter, für mich noch schlimmere Aspekt: Flatrates führen lediglich zu anonymen Zuweisungen. Erträge gelangen nicht zum einzelnen Autoren, sondern wandern in den „großen Topf“. Der wird dann nach dem Prinzip der Quantität, des Marktanteils an diejenigen ausgeschüttet, die sowieso schon gut im Rennen sind. Die viellen „Kleinen“ gingen leer aus. Es wäre eine systematisierte Ungerechtigkeit. Deshalb will die GEMA von Google, YouTube et cetera keine anonymen Flatrate-Millionen, die sie nicht individuell zuweisen kann, sondern ein zukunftsorientiertes Bezahlunsystem nach realer Nutzungshöhe. Das Demokratische und Spannende an YouTube ist sogar, dass ein völliger No-Name-Komponist mit eigener Kreativität zum Beispiel zwei Millionen Klicks generieren kann (ohne Verlag, ohne Major), nur weil er etwas Tolles gemacht hat. Da müssten diese Klicks als geldwerter Nutzen auch auf sein Konto gehen, und nicht in den anonymen großen Topf. Alle bislang vorliegenden Angebote eines Flatrate-Verfahrens sind so unterirdisch schlecht und ungerecht, dass man diese im Namen der Autoren nicht annehmen darf.
nmz: Die GEMA hat einige Tarife verändert, vor allem für Veranstalter, und neuerdings bei Diskotheken, Clubs und Veranstaltungsstätten einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Was steckt dahinter?
Schneider: Die GEMA hat neue Tarife erarbeitet, die ab 2013 gültig sein sollen. Konzept war eine Linearisierung. Wir sind damit gemäß der Bundestags-Petition vielen Nutzerkreisen entgegengekommen und haben den Tarifdschungel mit der Maßgabe vereinfacht, vor allem die kleinen und mittleren Veranstalter zu entlasten. Die Diskothekentarife hat diese Entlastung nicht betroffen, denn im europäischen Vergleich hat die GEMA bislang ohnehin den niedrigsten Diskothekentarif gehabt. Musik ist in Diskotheken etwas ganz Essenzielles, sie verdienen damit im Grundsätzlichen ein gutes Geld (man muss sich nur einmal die Getränkepreise in einer gehobenen Diskothek ansehen). In der öffentlichen Diskussion hat man nun das Diskothenthema herausgepickt. Leider wurde verschwiegen, dass die neue Tarifstruktur als Ganzes eine Veranstalterfreundliche und entlastende Sache ist.
nmz: Die GEMA schafft den sogenannten „PRO-Tarif“ ab. Was sind hier die Hintergründe?
Schneider: „PRO“ war ein statistisches Hochrechnungsverfahren, das oft auf Basis ominöser Vorurteile umstritten war. Durch die modernisierten digitalen Abrechnungssysteme der GEMA ist es nun möglich geworden, die Programmerfassung flächendeckender, schneller und damit die Abrechnung feiner und gerechter zu gestalten. Statt Vermutung und Statistik (weil Programmeingänge lückenhaft waren) liegen jetzt konkrete detaillierte Nutzungszahlen bei Live-Veranstaltungen vor. „PRO“ ist unser momentan bestes Verfahren, jedoch arbeiten wir an etwas, was noch besser sein könnte. Ich hoffe, dass die Mitgliederversammlung dies annimmt, - sonst müssten wir mit „PRO“ weiterleben.
nmz: Nun sind die Kreativen der GEMA-Generalversammlung sehr stark in Sparten unterteilt. Besteht da ein hoher Moderationsbedarf und sind Sie der Typ Mensch, der das mit einem Bindebogen versehen wird?
Schneider: Wir leben ja in einer zentraleuropäischen Gesellschaft des fortgeschrittenen Autismus (als Hyper-Individualismus) und der Ellbogen-Mentalität. Der neue Wind des egoistischen Neoliberalismus weht daher auch in der GEMA. Gedanken wie Solidarität verloren sehr an Wert. Auch die GEMA droht in (übertrieben formuliert) „Autisten“gruppen auseinanderzufallen. Da ist es wichtiger denn je, dass sich der Aufsichtsrat und deren Vorsitzender integrativ verhalten. Für meinen Teil lebe ich musikalisch viele Sparten auch konkret, schreibe für Oper, Konzertsaal, Geistliche Musik, für Solisten und Ensembles unterschiedlichster Couleur, für Film und Fernsehen. Daher habe ich großflächig kollegiale Anerkennung, die für den neuen Posten als integrative Eigenschaft sehr wertvoll ist.
nmz: Mit ihrem Komponistenpreis leistet die GEMA in bestimmten Bereichen eine wichtige kulturelle Förderarbeit. Liegt in der Ausweitung einer solchen Tätigkeit vielleicht die Chance, das Ganze wieder zu „entautistisieren“?
Schneider: Unbedingt! Wer den Deutschen Musikautorenpreis besuchte, kam immer euphorisch wieder nach Hause, und zwar aufgrund des vibrierend im Raum existenten Solidargedankens. Der Preis weckt sehr viel Optimismus dafür, dass wir GEMA-Mitglieder eine große Familie mit dem faszinierenden gemeinsamen Lebensinhalt „Musik!“ sind und es doch noch schaffen können, den Solidargedanken in stürmischer Zeit oben zu halten.
nmz: „Ohne Komponisten könnte mein Körper nicht sprechen“ ist Claim einer neuen großen Sympathieinitiative der GEMA. Man geht an die Öffentlichkeit, schafft ansehnliche Motive – spüren Sie da schon ein wenig Erfolg?
Schneider: Die Kampagne läuft erst seit wenigen Wochen. Ich bin selbst in der Entwicklung und im Marketingausschuss damit befasst gewesen. Wir haben alle Möglichkeiten einer authentischer Darstellung des „Urheber-Gedankens“ in der Öffentlichkeit durchkonjugiert und Ideen verfeinert. Der von Ihnen zitierte Claim verweist zum Beispiel im Untertitel die Musik von Wolfgang Rihm. Andere Cllaims verweisen auf Schlager, auf Filmmusik, auf Rockmusik. Bei der Kampagne (z.B. mit Plakaten in 14 Großstädten) spürt man, in wie vielen Bereichen unsere Gesellschaft Musik „braucht“ und welche Rolle die „Autoren“ spielen, die oft von den Interpreten-Namen überdeckt werden. Grundsatz war auch Authentizität: Der Kirchenchor, der beispielsweise zu sehen ist, ist ein „echter“ Kirchenchor, der sich mit dem ausformulierten Statement identifizierte. Speziell zur Kampagne gab es bislang weitgehend Komplimente, was uns natürlich erfreute.
Das Gespräch führte Theo Geißler