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Auch bei „Singen bewegt 2010“ in Berlin dabei: der Jugendchor Essenzen, hier bei einem Spontanauftritt anlässlich des Chorfestes Bremen 2008. Foto: Jan Rathke
Auch bei „Singen bewegt 2010“ in Berlin dabei: der Jugendchor Essenzen, hier bei einem Spontanauftritt anlässlich des Chorfestes Bremen 2008. Foto: Jan Rathke
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Wer singt, muss sich auch bewegen können: Zum Aktionstag „Singen bewegt“ am 2. Oktober 2010 in Berlin

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Aus dem Blickwinkel der chorischen Stimmbildung heraus ist diese Forderung mittlerweile beinahe ein Allgemeinplatz. Die meisten Chorleiterinnen und Chorleiter, auch viele Sängerinnen und Sänger wissen: Wenn der ganze Körper am Singen beteiligt ist, lösen sich stimmtechnische Schwierigkeiten, werden ungeahnte Leistungen erreicht und auch der Klang wird schlichtweg besser. Wer singt, sollte sich also bewegen.

„Singen bewegt“ ist auch das Motto eines bundesweiten Aktionstages der Deutschen Chorjugend (DCJ) am 2. Oktober 2010. In der eigenständigen, dem Deutschen Chorverband aber institutionell verbundenen DCJ sind derzeit etwa 100.000 Kinder und Jugendliche in circa 3.500 Chören erfasst, die Zahlen sind im Segment der jungen Menschen hier wie auch in anderen Verbänden (z.B. den kirchlichen Chorverbänden) im Wachsen begriffen. Es bewegt sich also etwas, nicht nur rein stimmbildnerisch betrachtet, sondern auch in Zahlen messbar.

Zu deuten wäre „Singen bewegt“ jedoch noch etwas anders. Keine Sorge: Wer an dieser Stelle überlegt, nicht mehr weiterzulesen, weil sie oder er fürchtet, eine weitere der in letzter Zeit beinahe mantra-mäßig wiederholten Aufzählungen zu lesen, dass Singen intelligent macht und das Sozialverhalten positiv beeinflusst, der hat es hiermit schon überstanden. Diese Aussagen enthalten zwar auch einen Kern Wahrheit, und wenn sich die so genannten Entscheidungsträger davon noch beeindrucken lassen, so seien diese Argumente gerne immer wieder angeführt; der Zweck heiligt das Mittel der Verkürzung ja auch in anderen Zusammenhängen, und warum soll sich die Lobbyarbeit für das Singen nicht auch derselben bedienen? Nein – gemeint ist noch einmal etwas anderes.

Die deutsche Sprache sagt oft mehr, als vordergründig aufscheint: Jemand „geht“ in den Schulchor, jemand „besucht“ eine Singschule, man „kommt“ zur Singstunde. All das sind Wendungen mit Verben, die eine aktive Bewegung bezeichnen. Wer in organisierter Gemeinschaft singen will, muss die heimische Dusche oder Badewanne verlassen, um der oben angesprochenen Statistik aufzuhelfen. Sie oder er muss sich bewegen, darf dazu nicht zu bequem sein und braucht dazu vor allem eines: den nötigen Antrieb. Heute nennt man den wohl landläufig Motivation, und es wird interessanterweise vor allem von (Musik-)Pädagogen und Chorleitern verlangt, dass sie Kinder und Jugendliche motivieren können. Konstatiert wird damit etwas überspitzt ausgedrückt: Diejenigen, die man zum Musikmachen oder zum Singen bewegen will, haben keine Motivation dazu, man muss sie von außen an sie herantragen, um den Karren in Bewegung zu bringen.

Und dann? Selbstverständlich stimmt es, dass mancher geradezu Leidenschaft für eine Sache entwickeln kann, der er sich zunächst nur ohne Lust und vielleicht sogar unter Druck gestellt hat. Schule hätte sich ad absurdum geführt, wenn nur noch die Kinder lesen lernen würden, die von vorneherein einen großen Drang dazu verspüren. Aber beim Stichwort „Schule“ und den damit zusammenhängenden Debatten scheint die Problematik auf, die jenseits aller Statistiken einen durchgreifenden Wandel in unserer Gesellschaft dem aktiven Musizieren gegenüber verhindert. Wenn allenthalben Lern- und Entwicklungspsychologie sowie Hirnforschung bemüht werden müssen, um Pädagogen und Eltern davon zu überzeugen, dass aktives Musizieren ihren Sprösslingen zu besseren Entwicklungsmöglichkeiten und – reden wir nicht um die in diesen Darstellungen immer mitschwingende, wenn auch nie so platt ausgesprochene Versprechung herum – zu einer „besseren Zukunft“ verhelfen kann, dann... ja dann ist die musikpädagogische Bewegung zu einem Sysiphusakt des Buhlens um Aufmerksamkeit und der Konkurrenz mit mathemathisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen und den Sprachen verdammt; ein Kampf gegen vor allem beruflich und damit wirtschaftlich existenzielle Disziplinen, den man nur verlieren kann. Im Überangebot dessen, was man als Kind oder als Eltern für das Kind „tun“ kann, wird sich die Musik und das Singen immer nur am bildungsbürgerlichen Rand behaupten können – eine nachhaltige und alle Gesellschaftsbereiche erfassende Singbewegung werden wir so nicht erleben. Das klingt skeptisch und ist es offen gestanden auch. Diese Skepsis jedoch bezieht sich hier einmal nicht auf die ach so singunfähigen Erzieherinnen in Kindergärten, die – wenn überhaupt zu tief singen, oder auf den im Schwinden begriffenen Musikunterricht in unseren allgemein bildenden Schulen (beide wie viele weitere Standard-Lamentationen über das verstummende Deutschland verkürzen die Darstellung einer Landschaft mit vielen positiven Gegenbeispielen auf unverantwortliche Weise), sondern sie bezieht sich auf die Tendenz der Gegenmaßnahmen. Um Missverständnisse zu vermeiden: Dies ist kein Plädoyer gegen Aufklärung und Aufrüttelung der Öffentlichkeit in der Sache oder gegen eine Qualifizierungsoffensive in den einschlägigen Lehrberufen oder gegen plakative Großveranstaltungen zum Thema, die medienwirksam positioniert werden. All das ist wichtig. Aber die Durchschlagskraft der vielen Bewegungen vom „Felix“ für Kindergärten über die vielen Schulinitiativen („Prima canta“, „Singen macht Sinn“, Chorklassenmodelle usw.) bis hin zu dem ein ganzes Bundesland erfassenden „Bündnis für das Singen mit Kindern“ in Baden-Württemberg bleibt dürftig, wenn die Adressaten – die Kinder und Jugendlichen – mit pädagogischer Finesse zum Singen getragen werden müssen wie der sprichwörtliche Hund zum Jagen.

Sir Simon Rattle sieht laut einigen Interviewaussagen, die sich wohl ohne grobe Fahrlässigkeit tatsächlich auf diesen Satz verkürzen lassen, die Zukunft der klassischen Musik in Venezuela. Der Grund dafür ist, dass die „Bewegung“ (nota bene!) ihren Antrieb aus einem doppelt existenziellen Bedürfnis bezieht. Aus dem Antrieb eines Maestro Abreu mit seinen Freunden und engsten Mitstreitern und aus dem der Kinder und jungen Menschen, die am eigenen Leib und an der eigenen Seele erfahren, dass die Musik ihr Leben verändert und ihm eine Perspektive gibt. Man darf zu Recht bezweifeln, ob unsere mitteleuropäische und   auch deutsche Sattheit einen solchen gesunden Hunger noch entstehen lassen können.

„Singen bewegt“ wäre ein gutes Motto, um dieser doppelseitigen Motivationsgrundlage in Bezug auf unsere Breiten und das Singen in Gemeinschaft, im Chor nachzuspüren. Denn sicher braucht es einen „Aktionstag“ und sicher sind alle lokalen, regionalen und bundesweiten beziehungsweise zentralen Veranstaltungen hilfreich und wichtig, um das gemeinsame Anliegen so vieler engagierter Menschen bei uns voranzubringen. Aber tragen wird das alles nur, wenn jede und jeder, der agiert und versucht, zu motivieren, noch Zeit und Muße findet, dieses so unglaublich bewegende Gefühl zu spüren, dass das eigene Singen die eigene Existenz beseelt und beglückt, sie damit trägt und festigt. Wenn zwei Prozent aller in Vorträgen, in Workshops, in Hochschulveranstaltungen, in Artikeln, in Diskussionen und in Verbandssitzungen aufgewendeten Zeit darauf verwendet werden würden, wären wir ein großes Stück weiter. Wer bewegt singt, wird bewegen.

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