Da liegt sie nun, die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage mehrerer Abgeordneter der SPD-Fraktion: 47 Druckseiten, die zusammenzutragen viel Arbeit, aber nicht unbedingt genau so viel Spaß bereitet hat, aber das Ergebnis ist zunächst Ehrfurcht gebietend. Beeindruckend ist vor allem, wie viele Regierungsressorts an der Musikförderung beteiligt sind. Man sieht daran, dass Musik in der von Berlin aus regierten Gesellschaft eine „wesentliche Rolle“ spielt, der Pflege des Musiklebens ein „hoher Stellenwert“ beigemessen wird. Genauere Gemeinplätze stehen dazu nicht in dem Papier. [aus nmz 12/2011-1/2012]
Die Koordination unter den Ministerien erfolgt „anlassbezogen“, mit Institutionen wie dem GI, dem DMR oder der IM (siehe weiter unten) wird zusammengearbeitet, aber gefördert wird nur, was in einem „gesamtstaatlich“ genannten Interesse liegt. Die Sinnzusammenhänge der staatlichen Musikförderung und ihre Kriterien liegen also weit außerhalb des Musikbetriebs selbst, und sie sind nicht ästhetischer oder sozialer Natur. So erklärt sich auch der rote Faden kategorischer Gleichgültigkeit gegenüber der inhaltlichen Ausweisung von Förderung, der sich durch den Text zieht: Der Regierung geht es nicht um Musik. Es geht ihr um nationale Relevanz, also um etwas, was sich nach veränderlichen politischen Prinzipien ausrichtet. In der Antwort der Regierung erscheint, zusammenhanglos und kontingent wie in einem Spielgelscherbenbild, eine Momentaufnahme dessen, was sie im Jahre 2010 an der Musik in Deutschland für relevant hielt. Wer das Textgebilde der Bundestagsdrucksache 17/7222 nach ästhetischen Kriterien und daran gehefteten Gerechtigkeitsvorstellungen abklopft, zielt am politischen Kern der Sache vorbei.
Am besten beginnen wir mit einem Abkürzungsverzeichnis. Der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien heißt BKM und war früher dem Bundesministerium des Innern (BMI) zugeordnet. Weitere Bundesministerien mit ressortspezifischen Förderinteressen wären: das BMFSFJ (Familie, Senioren, Frauen und Jugend), BMBF (Bildung und Forschung), BMWI (Wirtschaft und Technologie) und das Bundesministerium für Verteidigung (BMVg); weitere Regierungsabteilungen, die Mitverantwortung an der Musikförderung tragen, wären etwa das BMJ (Justiz), BMAS (Arbeit und Soziales) und das BMF (Finanzen). Es gibt Kooperationen mit dem bereits erwähnten Goetheinstitut (GI), das dem AA (Auswärtigen Amt) zugeordnet ist, mit dem Deutschen Musikrat (DMR) und der Initiative Musik (IM). Wer das Papier liest, wird finden, dass dieses Abkürzungsverzeichnis eine unentbehrliche Lesehilfe ist. Wer es nicht liest, sieht wenigstens, wo in der Gesellschaft Musik eine Rolle spielen kann. Nämlich überall.
Ein wenig defensiv räumt die Große Anfrage der Abgeordneten (Bundestagsdrucksache 17/4901) ein, die Musikförderung des Bundes sei „historisch gewachsen“, und die Regierung nimmt diesen Ball gern auf. „Historisch gewachsen“, das erklärt die lange Ressortliste, ist aber zugleich eine Entschuldigung für mannigfache Nicht-Begründbarkeiten. „Historisch gewachsen“ ist etwas Anderes als „systematisch“ und hat nicht unbedingt zu tun mit „an aktuellen Bedürfnislagen orientiert“. Bei der ästhetischen Kriterienlosigkeit der Förderungspolitik sind die beiden Legitimations-Figuren „historisch gewachsen“ und „gesamtstaatliches Interesse“ winzige Restfundamente einer sinnvollen Ordnung der Musikförderungspolitik.
So nimmt es nicht Wunder, dass der Regierungsbericht in vielen Details Verhältnisse offenbart, die man als durchschnittlich vorurteilsbeladener Musikfreund genau so erwartet hätte. In einigen (historisch gewachsenen) Förderungs-Details verbirgt sich erhebliches Erregungspotenzial, sowohl für diverse Interessengruppen innerhalb des Musikbetriebs wie auch für Anhänger gerechten staatlichen Handelns.
Und natürlich ist der weit verbreitete Generalverdacht einer krassen Bevorzugung älterer E-Musik gegenüber allen anderen Genres nicht wirklich zu widerlegen. Aber das ist nicht alles. Beispielsweise gingen im Jahre 2010 2,28 Millionen Euro an die Wagner-Festspiele in Bayreuth. Das ist vertraglich festgelegt („Was du bist, bist du nur durch Verträge“); das Andenken der Komponisten Bach, Händel und Beethoven, dem in der Republik etliche Festivals, Häuser, Archive und Wettbewerbe gewidmet sind, addiert sich auf 2,022 Millionen Euro Förderung. Sind also Bach, Händel und Beethoven zusammen weniger relevant als Wagner allein? So etwas ist natürlich schwer zu begründen. Noch schwerer die Tatsache, dass ein Auftritt der Rockband Tokio Hotel in Tokio mit 25.738 Euro, zwei Konzerte der Toten Hosen in Taschkent und Almaty mit 68.793 Euro gefördert wurden – das sind zusammen fast 20.000 Euro mehr als die Junge Deutsche Philharmonie pro Jahr vom Bund erhält. Und warum der verdienstvolle und nicht-kommerzielle Preis der Deutschen Schallplattenkritik im Jahre 2010 eine Fördersumme von 30.000 Euro erhält, der Industrie-Preis „Echo Jazz“ aber für sich allein eine „Anschubfinanzierung“ von 75.000 Euro, ist ebenfalls mit Argumenten nicht zu vermitteln.
Die Leuchttürme der zeitgenössischen Musik in Deutschland – Ensemble Modern, Donaueschinger Musiktage, Netzwerk Neue Musik, das Darmstädter INMM und die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik – erhalten vom Bund zusammen knapp 4,9 Millionen und bilden damit eine nicht unbedeutende Randerscheinung in den Förderprogrammen, allerdings besteht der größte Teil dieses Postens, rund 4,15 Millionen, in der Projektförderung für das Netzwerk Neue Musik, die zum Ende dieses Jahres erst einmal ausläuft.
Zwischen den Zeilen des Berichts und in vielen seiner Zahlenkonstellationen erscheint, neben dem nationalen Interesse und der historischen Gewachsenheit, ein drittes Kriterium, ein entwaffnend banales: Gefördert wird, wer die Kulturtechnik des Antragstellens beherrscht. Das ist eine alles andere als künstlerische Disziplin. Nur Künstler, die Zeit für Anträge haben und nicht davor zurückschrecken oder sich in eine Infrastruktur aus unterstützenden Förderantragstellern einklinken konnten, kommen überhaupt in der zentralstaatlichen Förderungspolitik vor. Über manche Details ließe sich also mit guten Gründen streiten, und die einschlägig interessierten Institutionen sollten das unbedingt und in wohlverstandenem Eigeninteresse tun. Das Papier der Bundesregierung liefert, endlich und erstmalig, verbindliches Material, auf das man eine Debatte aufbauen kann, und es ist gar nicht mal allzu unwahrscheinlich, dass innerhalb der Förderstruktur die eine oder andere Veränderung und Verbesserung erreichbar wäre.
Über all den Details sollte man den wichtigsten Punkt jedoch nicht übersehen, der jenseits jeglicher ästhetischen Debatte liegt. Im Jahre 2010, auf die sich das Papier bezieht, hat die Bundesregierung für die Musikförderung 44.197.000 Euro zur Verfügung gestellt. Das ist, wenn man bedenkt, dass Bundesförderung nur eine Ergänzung der kommunalen und der Länder-Förderung ist, keine kleine Summe. Von dieser Summe gehen an die Berliner Festspiele, den Hauptstadtkulturfonds („Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt“) und die Rundfunk Orchester und Chöre Berlin GmbH („Förderung auf der Grundlage des Hörfunk-Überleitungsstaatsvertrages vom 17. Juni 1993“) insgesamt 16.208.125 Euro. Das sind fast 37 Prozent der Gesamtfördersumme, und wer Lust hat, kann anhand dieser Relationen die Förderung pro Einwohner oder pro Quadratkilometer in Berlin und im übrigen Bundesgebiet miteinander in Beziehung setzen.
Es nicht so, dass dieses Geld in Berlin sinnlos ausgegeben würde, aber muss man jetzt annehmen, dass in der Hauptstadt 37 Prozent der sinnvoll zu fördernden Musikinitiativen Deutschlands beheimatet sind? Muss man nicht, denn die geografische Verteilung der Fördermittel des Bundes ist nicht ästhetisch begründet. Der Topos nationaler Relevanz, gepaart mit ästhetischer Gleichgültigkeit, bedeutet nicht in erster Linie eine Bevorzugung des großen Erbes, bedauerlicherweise auch keine Orientierung an Bildung und musikpädagogischen Initiativen noch an den Kompetenzen und Projekten fachlich ausgewiesener Institutionen. Die Musikförderungspolitik der Bundesregierung dient antiföderalistisch bevorzugt der Versorgung der Hauptstadt. Diese quasi geopolitische Schieflage ist der Kern der strukturellen Ungerechtigkeit darin.