Das Mozartfest Würzburg existiert seit 1921 und findet seither mit Unterbrechungen von 1945 bis 1950 und 1963 bis 1966 jährlich rund einen Monat lang im Frühsommer statt. Evelyn Meining leitet das städtische Festival seit 2014 als Intendantin. Das MozartLabor des Festivals, das im dritten Jahr im Exerzitienhaus Himmelspforten stattfand, eröffnete sie dieses Jahr mit einem kulturpolitischen Podium: Der Kulturberater Peter Gartiser und der stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Wissenschaft und Kunst im Bayerischen Landtag, Oliver Jörg (CSU), unterhielten sich mit nmz-Chefredakteur Andreas Kolb über das Thema: „Wie viel Mozart braucht der Mensch? Europas Musikerbe zwischen Werte- und Haushaltsdebatte“. Lesen Sie das Gespräch in Auszügen.
neue musikzeitung: Herr Jörg, wie viel Mozart braucht der Mensch?
Oliver Jörg: Kommt darauf an, wofür. Um glücklich zu sein? Bräuchte der Mensch Mozart dazu, würde das implizieren, dass vor Mozart kein Mensch glücklich gewesen wäre. Fasst man die Frage weiter: „Wie viel Kultur braucht der Mensch?“ und versteht Kultur als Teil der Daseinsvorsorge, dann kann es nicht genug Mozart sein.
nmz: Herr Gartiser, wie viel Mozart braucht der Mensch?
Peter Gartiser: Mozart ist unsterblich, seine Werke werden immer wieder aufs Neue ihre Zuhörer finden und ihr Leben bereichern. Ich drehe die Frage ganz frech um. Sie heißt dann „Wie viele Menschen braucht Mozart?“ Daraus möchte ich die Frage ableiten: „Haben die heutigen Kulturinstitutionen in der Zukunft auch genügend Publikum, um auf dem künstlerischen, finanziellen und personellen Niveau, auf dem sie heute stehen, überleben zu können?“
nmz: Herr Jörg, wenn sie im Haushaltsausschuss des Bayerischen Landtags beraten, denken Sie und ihre Kollegen über die Idee, über den künstlerischen Wert eines zu fördernden Festivals nach?
Jörg: Grundsätzlich hat man eine gewisse Distanz zu den künstlerischen Konzepten. In Bayern wird der Kulturhaushalt für zwei Jahre aufgestellt. Da gibt es verschiedene Haushaltstitel: Für alle geförderten Festivals in Bayern gibt es einen Topf, für alle nichtstaatlichen Theater gibt es einen Topf, für alle nichtstaatlichen Orchester gibt es einen Topf. Wir entscheiden eigentlich nur, ob wir so einen Topf insgesamt erhöhen.
Aber: Die Kulturpolitiker, die die Verantwortung tragen für Bayern und dann die Abgeordneten in toto, die kennen natürlich ihre Festivals vor Ort. Da hat jeder im Hinterkopf, wem er hilft, wenn dieser Topf insgesamt erhöht wird. Da weiß ich als Würzburger genau, da ist „Umsonst und Draußen“ drin, da ist das Mozartfest drin, da ist aber genauso das Afrikafestival drin. Dann wird abgewogen: Was für eine Arbeit wird geleistet? Wie hat sich ein Festival entwickelt? Ist eine Erhöhung der Förderung vertretbar neben all den Politikfeldern, die es auch noch gibt? Wie haben sich die Kosten der Festivals entwickelt? Gibt es zum Beispiel tarifliche Steigerungen? Dazu kommt die Lobbyarbeit von Abgeordneten und wer besonders fleißig unterwegs ist, der holt ein bisschen mehr raus für sein heimisches Festival als der andere. Letztlich muss man im Ministerium für die Einzelprojekte werben, mit den zuständigen Mitarbeitern und Fachreferenten dort, und wenn alle Stricke reißen: mit dem Staatsminister. Da gibt es auch mal Absagen, weil man nicht überzeugt ist – und da gibt es kräftige Zusagen, wie fürs Mozartfest, weil man vom Inhalt sehr überzeugt ist.
Klare Kriterien fehlen
nmz: Herr Gartiser, wie kommen Sie an die Politiker ran, die Sie für ihre Arbeit ja auch brauchen?
Gartiser: Einen Teil der Überzeugungsarbeit, von der Herr Jörg spricht, leisten wir ja, wenn wir die Leistungen von Kulturinstitutionen analysieren, beschreiben und darüber berichten. Politik und Verwaltung nehmen das meist zur Kenntnis, nicht immer lernen sie aus den Erkenntnissen. Ich vermisse zum Beispiel folgendes: Politik besetzt Führungspositionen und gibt dem Management keine klaren Vorgaben. Direktoren oder Intendanten werden sehr stark nach dem Schaufenster – der öffentlichen Wirkung – ausgesucht.
nmz: Ist das nicht richtig im Sinne der Freiheit eines künstlerischen Leiters oder Intendanten?
Gartiser: Ja, das soll auch so bleiben. Aber ein Theater ist so groß wie ein mittelständisches Unternehmen und ein Intendant übernimmt dafür die inhaltliche und wirtschaftliche Verantwortung! Herr Jörg, Sie haben gerade geschildert, wie Festivals durchleuchtet werden, bevor sie aus dem Zuschusstopf gefördert werden. Aber die Kriterien sind nicht klar. Die bayerischen Hochschulen sind da in der Methodik weiter: Ich würde mir wünschen, dass man auch in der Kultur eine Art Exzellenzinitiative schafft. Diese würde den Rechtfertigungs-druck, den auch eine Intendantin wie Frau Meining ständig hat, ein bisschen rausnehmen aus der Haushaltsdiskussion.
Jörg: Ihr Vergleich mit den Hochschulen belegt gut, warum ich zurecht anderer Auffassung bin. Es gibt die Kunstfreiheit und es gibt die Wissenschaftsfreiheit auf der anderen Seite. Bei der Wissenschaftsfreiheit sind wir gut beraten, uns aus der Haushaltspolitik der einzelnen Hochschule weitgehend rauszuhalten. Der Bayerische Landtag beruft keinen Präsidenten, der Bayerische Landtag beruft keinen ärztlichen Direktor, der Bayerische Landtag hat von den 20 Digitalisierungsprofessoren, die wir jetzt in Bayern verteilt haben, nicht einen einzigen berufen. Das wird alles außer Haus gemacht. Das wird alles weg vom Landtag, weg vom Ministerium, von Kommissionen gemacht, die einen wissenschaftsgelenkten Prozess beschreiten.
nmz: Sie wollen da keine inhaltliche Priorisierung vornehmen …
Jörg: Das ginge mit dem Kunstverständnis nicht zusammen. Früher mag das so gewesen sein, da hat der Fürstbischof entschieden, was in Auftrag geben wird. Ob da so viel künstlerische Freiheit war, weiß ich nicht. Wir leben in einer Demokratie und in einer Demokratie ist es so, dass die Bürgerinnen und Bürger des Landes entscheiden, was wir fördern und was nicht! Deswegen sind die Mechanismen ganz andere.
Förderung und Markt
nmz: Die einzig flexible Stellschraube bei einem Festival wie dem Mozartfest scheint die öffentliche Förderung zu sein. Vergessen wir dabei nicht die Kreativwirtschaft?
Jörg: Kultur und der Kreativwirtschaftsbereich sind zusammen der drittwichtigste Wirtschaftsbereich in Bayern, gleich nach der Automobilindustrie und dem Maschinenbau. Es sind 200.000 Menschen, die damit ihr täglich Brot verdienen. Wenn wir als Staat eingreifen und fördern, dann hat das auch marktwirtschaftliche Auswirkungen – das ist ein ganz schwieriges Feld. Ich nenne mal ein Beispiel: Wir bauen einen Konzertsaal in München, und das Orchester, das dort musiziert, wird auch noch gefördert. Und dann gibt’s welche, die sind auf dem Freien Markt unterwegs, die müssen sich einmieten in einer großen Halle und das Orchester muss selbst den Lebensunterhalt bestreiten. Doppelförderung da, auf der anderen Seite keinen Cent! Und so ein Beispiel muss man immer im Hinterkopf haben bei der Frage, wie weit darf sich der Staat durch Förderung in Kunst und Kultur einmischen? Die Legitimation kann eigentlich nur sein, Kunst und Kultur für eine breite Bevölkerungsschicht zugänglich zu machen.
Gartiser: Ich finde das völlig richtig, wie sie das beschreiben für den Wissenschaftsbereich und genau so sollte es in der Kultur auch sein – ist es aber nicht! Die Berufungen der Hochschulpräsidenten sind Gott sei Dank nicht politknah, sondern sie sind durch sachverständige Gremien berufen und da gibt es einen klaren Kriterienkatalog. Bei Entscheidungen für Führungspositionen in der vom Freistaat geförderten Kulturinstitution gibt es stattdessen einen Ministerialdirigenten, der hat das Vorschlagsrecht, und das ist schon sehr politiknah. Ich vermisse einen Korridor, in dem man definiert: Diese strategischen Punkte könnten Kriterien für unsere Entscheidung sein. Sie dürfen nichts mit Inhalten zu tun haben, da sind wir uns einig: Kunstfreiheit steht über allem!
Jörg: Politiknah nicht, aber wenn Sie intransparent sagen würden, würde ich Ihnen zustimmen.
Gartiser: Ja, oder intransparent! Das haben Sie wahrscheinlich alle in der Zeitung gelesen: Der neue Ballettchef der Bayerischen Staatsoper, der setzt erst einmal 27 Ensemblemitglieder frei. Daraufhin zieht sich ein Sponsorenehepaar zurück. Das ist auch Kunstfreiheit und insofern alles okay, aber ich glaube, so war es nicht gewollt. Da könnte man ein bisschen behutsamer und strategischer an dieses Thema herangehen.
Jörg: Genau. Wir können das kaum auf der Bühne des Landtags austragen, wenn Personalverhandlungen laufen. Wissen Sie, das ist ein ganz schwieriger Spagat. Wir sind da manchmal auch frustriert im Landtag.
nmz: Bemüht man das Musikinformationszentrum des Deutschen Musikrats, dann belegen die Zahlen dort, dass die Kulturausgaben insgesamt seit 2011 nur nach oben gehen. Sie produzieren als Politiker steigende Haushalte, aber warum haben wir unter‘m Strich nicht mehr Kunst oder nicht mehr Mozart? Warum stehen alle unter Spardruck?
Jörg: Das kann man so nicht sagen. Ich habe nicht den Überblick für ganz Deutschland, aber für Bayern gilt: Wir haben seit 2012 das Gesamtvolumen für die Kulturausgaben von 630 Millionen erhöht auf 800 Millionen im laufenden Haushaltsjahr. Das ist eine Erhöhung um 25 Prozent. Ist dadurch mehr Kultur in Bayern entstanden? Die Antwort lautet „Ja“. Uns ist es gelungen, Einrichtungen in die Förderung neu aufzunehmen, die bisher eben nicht dabei waren. Zum Beispiel: Das Stadttheater in Ansbach machte sich auf den Weg, so professionell unterwegs zu sein, wie die städtischen, geförderten Theater in Bayern insgesamt. Wir haben ein Theater „augenblick“ hier in Würzburg, das produziert vielleicht nur 15 Aufführungen pro Jahr. Mehr geht aber auch nicht, weil inklusiv gearbeitet wird – mit Menschen, die beeinträchtigt sind. Das Kulturangebot, das „augenblick“ für die Bürgerinnen und Bürger macht, ist aber genauso wertvoll wie 100 Aufführungen im Mainfranken Theater, und deshalb haben wir es in die Förderung aufgenommen. Fazit: Durch die 25 Prozent Haushaltsteigerung ist ein Mehr an Kultur generiert worden.
Wo bleibt das Neue?
nmz: Wenn wir fragen: Wie viel Mozart brauchen wir? Müssen wir da nicht auch fragen, wie viel Neues brauchen wir?
Gartiser: Zunächst: Bund, Länder und Gemeinden geben 10,7 Milliarden für Kultur insgesamt aus. Für Theater, Orchester, Museen sind es zwischen vier und fünf Milliarden. Wir fragen uns als Berater, ob die alle gut angelegt sind, ob man mit den gleichen Mitteln nicht noch mehr Kunst, noch mehr Qualität, noch mehr Innovation und noch mehr Teilhabe der Bevölkerung an diesem breiten Kulturangebot erzielen könnte. Dafür arbeiten wir ja. Deshalb bin ich überzeugt, dass wir in Zukunft neben der institutionellen Förderung weitere freie Projektmittel benötigen, die wir über ein transparentes Vergabeverfahren nicht nur einmal, sondern sogar über drei oder fünf Jahre vergeben können, etwa so wie es die Kulturstiftung der Länder oder die Kulturstiftung des Bundes tun. Das würde zwischen Werte- und Haushaltsdebatten eine Auseinandersetzung um die besseren Argumente für Kunst, Qualität, Innovation und Teilhabe befördern. Und es würde Neues kreieren, Experimentelles, den Mut zum Risiko steigern. Wir müssten die zehn Milliarden eigentlich nicht erhöhen, sondern könnten versuchen, sie noch besser auszuschöpfen.