In München überrasche ihn der „außergewöhnliche Mangel an Erkenntnis, zu echten Lösungen zu kommen“, sagte Simon Rattle im Februar der Münchner „Abendzeitung“ mit Blick auf die grassierenden Denkpausen beim Bau und der Sanierung der Münchner Konzertsäle. Derzeit stockt es nicht nur beim Projekt des Freistaats im Werksviertel, sondern auch bei der Sanierung des städtischen Gasteig.
Ein Kernproblem all dieser Debatten ist die fehlende Ganzheitlichkeit. Hinter jedem Projekt stehen andere Interessengruppen, die – der Autor spricht aus 20 Jahren Erfahrung als Beobachter – kaum bis gar nicht miteinander reden. Das Konzerthausprojekt des BR-Symphonieorchesters entstand letztendlich ohne kulturpolitische Perspektive, allein aus Frust über das Erstbelegungsrecht der Münchner Philharmoniker und dem Unwillen der Stadt, den Gasteig zu verbessern. Lange hieß es, 4.000 tägliche Besucher könnten nicht irren, und die Akustik in der Philharmonie sei ein Problem von ein paar Bildungsbürgern. Heute ist der Bau sanierungsreif, es gibt ein überzeugendes Projekt für eine Neukonzeption des Baus durch eine gläserne Bühne, die den Bibliothekstrakt mit der Philharmonie verbinden und zum Schauplatz kultureller Bildung werden soll. Doch das Projekt stockt, weil die Stadt die Sanierung über einen Investor finanzieren will, aber niemanden gefunden hat, der zum Festpreis von schön gerechneten und schon nach zwei Jahren nicht mehr realistischen 450 Millionen dem größten Kulturzentrum Europas ein Update verpassen will.
Das Konzerthaus im Werksviertel ist eine Herzensangelegenheit des BR-Symphonieorchesters. Nach dem letzten bekannten Planungsstand ist nicht einmal ein Chorprobensaal vorgesehen. Kein Wunder, dass schon der BR-Chor zögert, sich zum Konzerthaus zu bekennen. Das Münchner Rundfunkorchester schweigt eisern. Andere Interessenten sind bei nüchterner Betrachtung nicht vorhanden. Das bleibt ein Konstruktionsfehler.
Mehrere Ministerpräsidenten haben den Bau widerstrebend versprochen, aber man scheut, den Landtag nach dem Geld zu fragen. Private Spender soll es geben, konkrete Beträge werden aber nie genannt. Rundfunkpolitisch bleibt der Bau ebenfalls heikel. Um das Projekt durchsetzungsfähig zu machen, hat man es mit Visionen einer Digitalisierung und viel kultureller Bildung überladen. Der letzte Stand ähnelt zum Verwechseln der Neukonzeption des Gasteig. Was die Frage aufwirft: Braucht man das alles wirklich zweimal?
Das verfallende Prinzregententheater wurde seinerzeit saniert, weil es mit August Everding ein Gesicht hatte und mit dem Gebäude Emotionen und Erinnerungen verbunden waren. Das alles fehlt dem Konzerthausprojekt, Simon Rattle ist als Chefdirigent des BR-Symphonieorchesters die letzte Chance.
Möglicherweise ist München dafür groß genug. Aber es gibt auch keine gute Halle für Pop und Rock. Das sanierungsreife Haus der Kunst steht zu einem Drittel leer, andere Museen sind in einem schlechten Bauzustand. Das Residenztheater ist hinter der Bühne marode, die Bayerische Staatsoper steht vor einer sehr teuren Generalsanierung. Wenn der gegenwärtige Kunstminister Markus Blume derlei aufzählt, hören die Fans des Konzerthauses lieber weg.
Hinzu kommt, dass der Bau der Isarphilharmonie die Situation verändert hat. Das Gasteig-Provisorium hat 70 Millionen gekostet, für den Neubau im Werksviertel wird das Zehnfache genannt. Diese Diskrepanz ist schwer vermittelbar. Das in nur einem Jahr errichtete Gebäude hat eine gute Akustik, die historische Halle E vereint ganz zwanglos den kommunikativen Rahmen der Stadtbibliothek mit einem Foyer. Die Philharmoniker veranstalten hier zu ihren Konzerten gute Rahmen- und Nachtprogramme.
Wenn man Vertreter des BR-Symphonieorchesters darauf hinweist, bekommt man zu hören: Wir können hier nichts machen, es ist ja nicht unser Saal. Das ist kleinkariert, und es ist auch keine gute Idee, die Isarphilharmonie schlechtzureden, wie es zuletzt Anne-Sophie Mutter im Podcast des Orchesters getan hat: Denn auch das BR-Symphonieorchester wird bis auf Weiteres dort spielen müssen. Die von der Geigerin beklagten Mängel im Backstage-Bereich ließen sich beheben, sie rechtfertigen keinen Neubau. Leider sehen die Konzertsaal-Fans nicht, dass der in Musikerkreisen übliche Anspruchs-Maximalismus leicht unverschämt wirkt.
Es stimmt zwar, dass Neubauten neues Publikum anziehen. Braucht München aber drei ähnliche, auf klassisch-romantische Orchestermusik zugeschnittene Säle? Lassen sich neue Konzertformate nicht auch in bestehenden Bauten erfinden? Bräuchte München nicht ein kluges Gesamtkonzept für alle Konzerthäuser? Ist die Rivalität zwischen der Stadt und dem Freistaat in diesem Punkt wirklich unüberwindlich?
Bezeichnenderweise spielen organisatorische Strukturen und Betreibermodelle in der Münchner Debatte höchstens eine nachrangige Rolle. Auch über die Folgekosten wird wenig gesprochen, viel dagegen über Umwegrentabilität, die selten in künstlerische Etats zurückfließt. Die Kehrseite der Fixierung auf Betongold und spektakuläre Bauten lässt sich an der Münchener Musiktheater-Biennale beobachten. Die neuen Leiterinnen Katrin Beck und Manuela Kerer (siehe Seite 2) müssen trotz steigender Kosten mit einem seit langem unveränderten Etat von 2,6 Millionen Euro auskommen. Damit ist zwar das Überleben des Festivals garantiert, aber große Sprünge lassen sich nicht machen. Es ist faktisch eine Schrumpfkur. Konzertsaalfans, an zeitgenössischer Musik eher desinteressiert, haben dafür nicht einmal ein Achselzucken übrig.