Chemnitz/Dresden - Seit den ausländerfeindlichen Demos in Chemnitz wird wieder diskutiert: Wie tickt der Osten? Die Kulturszene zeigt nach der rechten Hetze Flagge. Und ob Film, Bücher, Theater oder Musik: So viel Osten war lange nicht.
Die Wölfe zeigen Zähne und den Hitlergruß. Gerade hat der Künstler Rainer Opolka in Chemnitz seine Bronzewölfe vor das Karl-Marx-Monument gestellt. Damit reagierte Opolka auf die zum Teil ausländerfeindlichen Demos, die vor vier Wochen durch die Stadt zogen, weil ein Deutscher umgebracht wurde und Flüchtlinge unter Verdacht stehen.
Seitdem wird wieder einmal über Sachsen als Hochburg der rechten Hetze diskutiert. Auch wenn die Pegida-Demos in Dresden keine Massen mehr anziehen und sich viele von der AfD distanzieren - Rechtsextremismus ist ein Problem. Die Debatte um Ost und West, die DDR-Vergangenheit und die Fehler der Nachwendezeit - sie ist seit Chemnitz mit Macht zurück. Und das fast 30 Jahre nach dem Mauerfall.
Auch ohne Chemnitz ist gerade in der Kultur so viel Osten wie lange nicht. Im Kino läuft mit beachtlichem Erfolg und fast 200 000 Besuchern Andreas Dresens Spielfilm über den DDR-Liedermacher Gerhard Gundermann. Bei der Freiluftpremiere in Berlin sangen Zuschauer bei den Liedern mit.
Eine Kino-Doku erzählt den Weg der «Familie Brasch», zu der der Schriftsteller Thomas Brasch gehörte. Angepriesen wird die Geschichte als «Buddenbrooks in DDR-Ausgabe» - wahrscheinlich, damit auch Westpublikum anspringt. Die Autoren Jana Hensel und Wolfgang Engler sprechen im Buch «Wer wir sind» über die Erfahrungen von Ostdeutschen. Lukas Rietzschel schrieb mit «Mit der Faust in die Welt schlagen» einen Roman über Rechte in Sachsen.
Viele wehren sich gegen Häme und pauschale Urteile, Stichwort «Sachsen-Bashing». Auch der Schauspieler Jörg Schüttauf ist da kritisch. Er stammt aus Chemnitz, das zu DDR-Zeiten Karl-Marx-Stadt hieß. Er sagt: «Erst waren es die Rostocker, dann die Mecklenburger, jetzt sind es die Sachsen. Ich mag das Sachsen-Bashing nicht, da ich sehr viele vernünftige Sachsen kenne, die ausgesprochen freundlich zu Ausländern sind.»
Ein Film der Stunde: «Wildes Herz». Darin geht es um Jan «Monchi» Gorkow. Er ist der Frontmann der Punkband Feine Sahne Fischfilet, die sich nicht nur in ihrer Heimat Mecklenburg-Vorpommern gegen Rassismus engagiert. «Monchi» war auch beim großen «Wir sind mehr»-Konzert in Chemnitz dabei und wetterte dort vor Zehntausenden gegen das «Abhitlern».
Auf einmal klingt vieles aktuell, was schon ein paar Jahre alt ist. Etwa, wenn die Chemnitzer Band Kraftklub einen Hit von 2012 singt: «Ich komm aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer, Baby, original Ostler». Auch im Theater gibt es solche Erlebnisse. «Wohin brechen wir auf nach dem, was geschehen ist?», heißt es in Roland Schimmelpfennigs Fassung der «Odyssee» in Dresden - Antike, aktuell erzählt.
Das Staatsschauspiel hat auch ein Stück von Jurek Becker über Ost und West auf dem Spielplan. Das Theater beschreibt es so: «Wenn Ossis und Wessis einander nicht verstehen, hilft nur eins: das Fernsehen. Also beschließen dessen Chefs, die Serie zur Einheit zu produzieren.» Für das Drehbuch wird ein angesagter Autor verpflichtet, der war aber blöderweise nie im Osten.
Der Dresdner Theaterintendant Joachim Klement erzählt, die Bühne sei unsicher gewesen, ob der selbstironische Humor des Becker-Stoffs aus den 90er Jahren ankommt. Aber laut Klement funktioniert er gut. Die Zeit ist also reif. Klement vergleicht das mit Billy Wilders Berliner Komödie «Eins, Zwei, Drei», die im Kalten Krieg niemand lustig fand und heute ein Klassiker ist. Das Stück der Stunde an seiner Bühne ist für ihn «Der Untertan» nach dem 100 Jahre alten Roman von Heinrich Mann.
Was pauschale Urteile über den Osten, Sachsen oder Dresden angeht, sagt Klement: «Die Wahrheit ist immer konkret.» Viel von dem, was ihm an Dresden- oder Sachsen-Bildern außerhalb der Stadt oder des Landes begegne, sei nicht identisch mit seiner Alltagserfahrung. AfD- und Pegida-Anhänger seien klar in der Minderheit. Was er im Moment aber «extrem gefährlich» finde, sei die Auflösung von Grenzen, auch von «Anstandsgrenzen». Denn Klement sieht bei der AfD - allen Distanzierungen zum Trotz - wenig Berührungsängste mit der fremdenfeindlichen Pegida und den rechtsextremen Identitären.
Beim Filmfestival Dok Leipzig (29. Oktober bis 4. November) wird Rechtsextremismus «auf jeden Fall» ein Thema sein, heißt es dort. Allerdings brauchen Dokumentarfilme, wenn sie die aktuellen Fälle aufgreifen wollen, noch etwas Zeit. «Es wird sich erst im nächsten Jahr abzeichnen, wie die Filmemacher von heute mit den aktuellen Ereignissen umgehen.»
Schneller konnte die Kulturszene in Chemnitz reagieren. Die Kunstsammlungen zogen eine für Anfang 2019 geplante Präsentation von Videoarbeiten des Künstlers Mario Pfeifer vor. «Again» arbeitet einen Vorfall aus dem sächsischen Arnsdorf vom Mai 2016 auf. Damals war ein Flüchtling nach einem Streit in einem Supermarkt des Ortes an einen Baum gebunden, der spätere Prozess gegen vier Tatverdächtige aber wegen Geringfügigkeit eingestellt worden.
Die Chemnitzer haben aufwühlende Wochen hinter sich. Das erzählt auch der Generalintendant der Städtischen Theater, Christoph Dittrich. Hooligans, Übergriffe, Hitlergrüße - erst sei da ein Schock gewesen, erzählt er. Dann habe man sich gesammelt, mit dem Gedanken «Nein, das sind wir nicht». Die Bühnen organisierten ein Konzert mit Beethovens 9. und der «Ode an die Freude» unter freiem Himmel. Für viele ein Gänsehautmoment, bei dem sich unter Tränen die Anspannung löste - für Dittrich ein «unglaublich bewegender Moment».
Es gab auch viel Nachdenken - was war denn eigentlich los? Dittrich sah Angst, Sorge, Rassismus und Hetze. «Für Angst muss sich niemand entschuldigen, aber man muss sich darum kümmern.» Trost gab es laut Dittrich auch von einem Musikensemble aus dem britischen Leeds, das erzählte, in ihrer Stadt hätte so etwas auch passieren können.
Dass Chemnitz ins Rennen um die Europäische Kulturhauptstadt 2025 geht, steht für Dittrich außer Frage: «Jetzt erst recht.» Er weiß, dass die Chemnitzer Nachrichten vom hässlichen Deutschland um die Welt gingen. Aber er sagt, es komme darauf an, wie man mit solchen Ereignissen umgehe. Die Bühne will da weiter Flagge zeigen. So soll beispielsweise die Oper «Die weiße Rose» über die Nazi-Widerstandsgruppe gezeigt werden - als Protest dagegen, dass fremdenfeindliche Demonstranten weiße Rosen trugen.