Das Wesen des Faschismus ist es, jeden Aspekt menschlichen Daseins zu einem Kampf auf Leben und Tod zu erklären. Was das für die Musik bedeutet, hat vor siebzig Jahren in Düsseldorf die Ausstellung „Entartete Musik“ gezeigt. Dort wurde Musik als Begründung dafür nutzbar gemacht, Menschen zu deportieren oder in den Selbstmord zu treiben.
Eine gewissenhafte Aufarbeitung dieses dunkelsten Kapitels deutscher Musikgeschichte ließ auf sich warten. In den jungen deutschen Republiken ohnehin. Doch auch in den ideologisch motivierten Vereinfachungen seitens der Parteien des Kalten Krieges oder etwa der Bewegung der 68er blieb die Erinnerung auf die wohlfeile Oberfläche eines „Nie wieder!“ reduziert. Ebenso bewegte sich die musikalische Avantgarde der Zeit fern aller Stile von vor 1945.
Als 1988 – ein halbes Jahrhundert später – der Musikwissenschaftler Albrecht Dümling mit Peter Girth, dem damaligen Intendanten der Düsseldorfer Symphoniker, die NS-Ausstellung rekonstruierte, begründete dies die erste wirklich nachhaltige Auseinandersetzung mit den Schicksalen der verfolgten Komponisten: Winfried Radeke führte ein Jahr später an seiner Neuköllner Oper in Berlin Viktor Ullmanns „Der Kaiser von Atlantis“ auf, welche der Schönberg-Schüler im Zwangsghetto Theresienstadt kurz vor seiner Ermordung geschrieben hatte.
Der Erfolg und die Faszination der wieder entdeckten Musik brachten Radeke und weitere Berliner Musikfreunde dazu, „musica reanimata“ zu gründen, Vorsitzender wurde Albrecht Dümling.
1990 begann der Verein nicht nur an die Komponisten in Theresienstadt zu erinnern, sondern auch an die Werke, welche dort komponiert und aufgeführt worden waren und welche die SS zu Zwecken auswärtiger Propaganda geduldet hatte.
Das war neu. Als perfides Vorzeigeobjekt der Nazis war Theresienstadt zwar längst ein Gemeinplatz der Geschichtsschreibung. Initiativen zur Wiederbelebung der Musik von Ullmann, Gideon Klein oder Pavel Haas hatten dagegen bislang kein Gehör gefunden. Erst seit Mitte der Achtziger Jahre standen die Zeichen dafür günstiger. Melodische, gar tonale Stile galten nicht mehr pauschal als veraltet, eine nicht unmittelbar vom Krieg betroffene Generation war herangewachsen, und einige der Betroffenen fanden im hohen Alter endlich die Kraft, ihr langes Schweigen zu brechen, wie der Jazzmusiker Coco Schumann oder Berthold Goldschmidt, der nach Jahrzehnten wieder zu komponieren begann. Durch diesen Stimmungswandel der Wendezeit wurde die inhaltsreiche Arbeit möglich, welche „musica reanimata“ bis heute auszeichnet.
Ziel des Vereins ist es, der Musik jene Chance auf Verbreitung zu geben, welche ihr durch den Nationalsozialismus genommen wurde. Dafür begleitet „musica reanimata“ die Werke über den gesamten Prozess ihrer „Wiederbelebung“. An dessen Anfang steht die Quellenarbeit. Lange verlorenes oder vergessenes Material gibt der Verein als Schriften heraus (bei von Bockel und Pfau) beziehungsweise vermittelt es an Notenverlage. Dank deren Mitarbeit – Schott und vor allem Boosey & Hawkes seien hier lobend erwähnt – ist es gelungen, neben berühmten Titeln wie dem „Kaiser von Atlantis“ auch weniger lukrative Titel zu veröffentlichen, etwa Ullmanns Klaviersonaten oder die Streichtrios von Gideon Klein. Vom anfänglichen Fokus auf Theresienstadt hat „musica reanimata“ seine Reichweite längst ausgeweitet. Zunächst auf die Opfer anderer NS-Lager, zum Beispiel Erwin Schulhoff, später dann auf die zahlreichen Flüchtlinge und Exilanten, die stumm oder vergessen blieben. Inzwischen ist der Verein eine etablierte Anlaufstelle für Quellenfunde aus aller Welt. Mit der Veröffentlichung solcher Quellen ist die Wiederbelebung aber noch nicht abgeschlossen. Schließlich gilt es noch, Musiker, Veranstalter und Publikum für die Aufführung zu begeistern.
Am direktesten setzt der Verein das bei seinen eigenen Gesprächskonzerten im Musikclub des Konzerthauses Berlin um: Gespielt von fachkundigen Interpreten wie zum Beispiel Kolja Lessing, Axel Bauni oder dem casalQuartett erlebt man ein Werk und seine Geschichte des Vergessens, diskutiert mit von weit her angereisten Hinterbliebenen oder früheren Kollegen, manchmal sogar mit dem Komponisten selbst. Nähert man sich auf diese Weise den Streichquartetten von Paul Kletzki, der zu komponieren aufhörte, als er von der Ermordung seiner Eltern erfuhr, oder der Kammermusik des nach Neuseeland vertriebenen Georg Tintner, so erahnt man die Wunde, die noch immer in unserer Kulturlandschaft klafft. Erwin Schulhoff sagte einmal: „Zum Einschlafen gibt’s genügend Musiken.“ Es ist die besondere Leistung des Vereins, das viele Wertvolle unter dem Vergessenen aufzuzeigen, so dass die Erinnerung auch zu einem kulturellen, zu einem musikalischen Gewinn wird.
Solcher Anspruch verlangt Aufopferung, zumal die Vereinsarbeit weitestgehend ehrenamtlich geleistet wird. Staatliche Förderung blieb trotz mehrerer Anträge verwehrt. Dabei ist „musica reanimata“ hervorragend vernetzt und anerkannt. Im Kuratorium sitzen unter anderem Daniel Barenboim, Udo Lindenberg und Udo Zimmermann. Die Gesprächskonzerte werden landesweit vom Deutschlandfunk übertragen. 2006 erhielt „musica reanimata“ den Musikpreis des Verbandes deutscher Kritiker und 2007 wurde Albrecht Dümling der neue Kairos-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung verliehen. „Die Preise sind ein Ansporn weiter zu machen. Wir finden immer neue Themen und wollen noch viel mehr leisten“, sagt Dümling, der bis Ende 2009 sein Buchprojekt zur Musik im australischen Exil beenden will.
Besondere Aufgabe der nächsten Jahre soll ferner die Schaffung einer europäischen Plattform werden, um Exilmusik als Bindeglied Europas zu begreifen. So verdankt sich beispielweise das Musikverlagswesen in England wesentlich der Emigration aus Wien und Berlin nach 1933. Eigentlich müsste man dazu ein eigenes Institut einrichten. Dass dem Verein die entsprechenden Mittel fehlen, entmutigt Dümling nicht: „Wenn wir so dächten, hätten wir uns längst auflösen müssen.“