Heimlich, still und leise sind sie wieder einmal vorgegangen bei der Kultusministerkonferenz (KMK). Die im Oktober 2008 in Saarbrücken beschlossenen „Ländergemeinsamen inhaltlichen Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung“ waren seit Februar 2006 in einer von der „AG Lehrerbildung“ eingesetzten Ad-hoc-Arbeitsgruppe Inhaltliche Anforderungen, kurz: AG Inhalte, ausgekocht worden. Das von der Arbeitsgruppe im Juni 2008 der KMK vorgelegte und dort einstimmig verabschiedete Papier enthält 17 einzelne Fachprofile, darunter Bildende Kunst, Musik und Sport, fein säuberlich getrennt. Diese Profile aber beziehen sich nur auf die Sekundarstufen I und II. Dahinter folgt pauschaliert ein Abschnitt zur Grundschulbildung, und darin nun finden sich Leitlinien zum „Studienbereich Ästhetische Bildung: Kunst, Musik, Bewegung“.
Da haben wir den gemischten Salat! Über die Studieninhalte für das „primarstufenbezogene Lehramt“ wird hier offenbar eine ländergemeinsame curriculare Grundschulreform eingefädelt, bei der drei bislang in den meisten Ländern noch autonome, separat unterrichtete Fächer in einen neuen Fachbereich „integriert“ werden: Musik, Kunst und Sport sollen demnach bundesweit aus dem Stundenplan verschwinden und durch „Ästhetische Bildung“ ersetzt werden, ohne dass dies bildungstheoretisch, inhaltlich oder didaktisch näher begründet oder erörtert würde – ein bildungspolitischer Skandal erster Ordnung. Die im deutschen Bildungswesen leider erst in den letzten Jahrzehnten deutlich artikulierten Bemühungen um die Vermittlung von Musik von früher Kindheit an, also im Vor- und Grundschulalter, würden damit wieder zunichte gemacht, bevor sie überhaupt ins allgemeine pädagogische Bewusstsein gedrungen und überregional in die Praxis umgesetzt worden sind.
Zur Erinnerung: In Deutschland war „Schulmusik“, seit es sie gab, ideologisch verfilzt; in den Lehrplänen oder Richtlinien hatten Begriffe wie Gemeinschaft, Heimat, Vaterland, Feier, Volk, Kirche und Staat im Vordergrund gestanden. Darauf nahm Theodor W. Adorno als einer der ersten Ideologie-Kritiker Bezug (u.a. in „Dissonanzen“, 1963), und Heinz Antholz, Professor für Musikerziehung an der Pädagogischen Hochschule in Bonn, setzte derlei Kritik um in Programmatik, als er in seiner wegweisenden Schrift „Unterricht in Musik“ 1970 forderte, vom Beginn der Grundschule an Musik im Fachunterricht zu vermitteln. Antholz begründete dies nicht nur theoretisch, er entwarf dafür konsequent auch fachdidaktische und methodische Leitlinien. Die Aufgabe des Musikunterrichts in der Primarstufe lautete vorrangig „Musik hören lehren“, das Ziel war „Introduktion in Musikkultur“. Dabei war er sich mit anderen Reform-Musikpädagogen einig: Der frühe Beginn qualifizierender Musikvermittlung ist geboten angesichts der Aufnahmefähigkeit wie -bereitschaft von Kindern bereits im Vorschulalter wie auch aufgrund der kaum regulierbaren Musikbeschallung, denen sie spätestens von Geburt an ausgesetzt sind.
Während der Chor der Fürsprecher aus Politik, Wissenschaft und Fachpublizistik zugunsten von „Unterricht in Musik“ gerade in den ersten Schuljahren und im Vorschulbereich kontinuierlich anschwoll, war die Entwicklung in der Praxis gegenläufig. Inzwischen muss hier von einem Notstand gesprochen werden: Nach Untersuchungen des Verbands Deutscher Schulmusiker (VDS) werden bundesdurchschnittlich in den Grundschulen derzeit nurmehr 20–30 Prozent der planmäßig vorgesehenen Musikstunden von fachlich ausgebildeten Lehrern erteilt, drei Viertel aller Musikstunden werden demnach von fachfremden Lehrkräften gegeben oder fallen aus.
Nun also wird die Flucht nach hinten angetreten: Wie bereits in Bremen, Hessen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein praktiziert, soll dem Beschluss der Kultusminister zufolge in der Grundschule bundeseinheitlich als gemeinsamer Nenner ein Studien- und konsequenterweise auch ein Fachbereich „Ästhetische Bildung: Kunst, Musik, Bewegung“ geschaffen werden. Nichts Gutes erhoffen lassen dabei die verquast formulierten „Fachlichen Perspektiven“, so etwa „Grundlagen ästhetischer Wahrnehmung und Erfahrung; Bedeutung von Sinnlichkeit und Körperlichkeit in der Welt- und Selbstaneignung von Grundschulkindern“ … Im Übrigen werden die fachliche Umsetzung von derlei Perspektiven und die Gestaltung von Lernarrangements lediglich „in mindestens einem Teilbereich“ verlangt, sodass grob geschätzt die Hälfte der Fachlehrer für Ästhetische Bildung – aber nunmehr programmiert – kaum Ahnung haben dürfte von Musikvermittlung.
„Unterricht in Musik“ kann man da vergessen, ebenso wie jede entsprechend fachlich stringente Unterweisung in Bildender Kunst und Sport. Dass dafür derzeit ohnehin nicht genügend Fachkräfte zur Verfügung stünden, ist ein windiger Einwand, denn inzwischen werden beispielsweise für die Musikvermittlung viele Varianten der Kooperation zwischen Schulen, Musikschulen, Orchestern oder freischaffenden Musikpädagogen entwickelt und erprobt. Die aber funktionieren am ehesten dann, wenn die Schule eine fachpädagogische Basis liefert, also Unterricht und Erfahrung in Musik organisatorisch und didaktisch koordiniert. Gleiches dürfte in der Bildenden Kunst für die Kooperation mit Museen, beim Sport mit Vereinen und außerschulischen Sportstätten gelten.
Die Sportler waren naturgemäß die Schnellsten mit ihrem Protest, als die Ergebnisse der 323. Plenarsitzung der Kultusministerkonferenz ruchbar wurden: Noch vor Weihnachten warnte der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbunds, Thomas Bach, in einer Pressemitteilung vor der „faktischen Aufgabe des Sportunterrichts in der Grundschule“ und forderte die KMK auf, „die Beschlüsse über die künftige Grundschullehrerausbildung zum Wohle der Kinder umgehend zurückzunehmen“. Eher versteckt reagierte der Deutsche Kulturrat im Januar in einer Stellungnahme zur Kulturellen Bildung in der Schule, in der er sich gegen eine „weitere Beschneidung der künstlerischen Fächer in der Schule“ wandte; Bildende Kunst, Musik und Theater dürften nicht in einem „Fächermischmasch“ untergehen.
Mit Protestnoten gegen die zähe und offenkundig inkompetente KMK-Bürokratie ist es freilich nicht getan; da wird von allen Fachverbänden wie auch von den zuständigen Gremien, nicht zuletzt den Elternvertretungen, mit härteren Bandagen gekämpft werden müssen – am besten mit der Präsentation und Dokumentation von realen Alternativen. Denn eines steht fest: Die unbestritten brisanten Defizite der Musikvermittlung in der Primarstufe lassen sich nicht dadurch beheben, dass Musik als Schulfach per ordre de KMK kurzerhand gekappt wird, zurückversetzt in die musische Steinzeit.