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Als Berlin noch Metropole war

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Uraufführung der Filmmusik von Elena Kats-Chernin zum Stummfilm „Menschen am Sonntag“
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Seit sechs Jahren hat der Stummfilm einen festen Sendeplatz beim deutsch-französischen Kulturkanal Arte. Mit den drei Schwerpunkten – Präsentation restaurierter Fassungen, Produktion neuer Filmmusiken und Aufzeichnung von Live-Aufführungen – hat sich Arte zu einem gefragten Kooperationspartner für Archive, Orchester und Veranstalter entwickelt. Am 16. November strahlt Arte den Stummfilmklassiker „Menschen am Sonntag“ aus, deren neue Filmmusik von Elena Kats-Chernin vor wenigen Wochen auf den Filmfestspielen in Karlsbad uraufgeführt wurde.

Anfang 1930 – längst gab es den Tonfilm – sorgte ein gut einstündiger Stummfilm in Berlin für volle Kinos. In der lapidaren Geschichte von „Menschen am Sonntag“ spiegelte sich das Zeitgefühl der pulsierenden Metropole und ihrer vier Millionen Einwohner wider. Regie führte Robert Siodmak, das Buch schrieb Billie Wilder nach einer Reportage des am 2. September dieses Jahres kurz nach seinem achtundneunzigsten Geburtstag gestorbenen Curt Siodmak, Produzent war Moriz Seeler. Namen, die der Cineast heute mit Ehrfurcht liest. Damals waren das unbekannte Jungfilmer, alle unter dreißig. Die Musik arrangierte und komponierte Otto Stenzel als ein vornehmlich durch Werke und Melodien tschechischer Komponisten inspiriertes Potpourri. Von dieser Filmmusik sind heute nur noch Hinweise in zeitgenössischen Zeitungskritiken und anderen Quellen vorhanden. Wurde der Film in den letzten Jahren bei einem Stumm- oder Kurzfilmfestival gespielt, dann bot er meist einem örtlichen Pianisten oder einer Jazzband willkommene Gelegenheit, die Szenen mehr oder weniger einfühlsam mit Gebrauchsmusik zu untermalen.

Die Version des Films „Menschen am Sonntag“, die bis vor kurzem weltweit zur Aufführung kam, war freilich nicht die Originalfassung, sondern eine wesentlich kürzere Kopie mit holländischen Zwischentiteln. In gemeinsamer Produktion von KirchMedia und ZDF/Arte bot sich für den Experten Martin Koerber die Gelegenheit zur aufwendigen Restaurierung des Filmes.

Was Koerber nicht rekonstruieren konnte, war Stenzels Originalmusik. Die in Taschkent gebürtige und heute in Australien lebende Komponistin Elena Kats-Chernin, die auf eine langjährige Erfahrung mit Theater-, Film- und Ballettmusiken zurückgreifen kann, erhielt den Kompositionsauftrag für eine neue Filmmusik zu „Menschen am Sonntag“. Anfang Juli erlebte ihre neue Musik für ein Solistenensemble ihre Uraufführung im kleinen Stadttheater in Karlsbad – übrigens in Anwesenheit der Hauptdarstellerin des Films, Brigitte Borchert, die zur Zeit der Filmpremiere 1931 zwanzig Jahre alt war. Überraschend an der Musik der Lachenmann-Schülerin ist das klare Bekenntnis zur Tonalität, zu einer Art neuer Einfachheit, wie sie vielleicht im Vitalismus der 20er- und 30er-Jahre eine Entsprechung findet. Die hauptsächlich in Dur-Tonarten gehaltene Musik bleibt im Konkreten, vermeidet aber jeden Anflug von Kaffeehausmusik. Sie ist raffiniert instrumentiert – und dabei stets rhythmisch anspruchsvoll. Die Aufführung leitete Frank Strobel, der an diesem Tag gegen ein Vorführgerät anspielen musste, das 23,5 Bilder pro Minute anstelle der üblichen 22 Bilder pro Minute abspielte. Diese kleine technische Unvollkommenheit übertrug sich aber nicht merklich auf die gelungene musikalische Darbietung. Die Leichtigkeit des Films, sein Tempo, fand eine Entsprechung in Kats-Chernins musikalischem Gestus. Auch wenn der Film keinen Höhepunkt im dramatischen Sinne kennt, so ist doch die berühmte Grammophon-Szene eine echte Zuspitzung: hier verstärkte die Komponistin mit einer Art slawischen Tanz die Emotionen der Protagonisten, ohne ein einziges Mal in Klischees oder gar ins Schlager-Genre zu verfallen.

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