Hauptrubrik
Banner Full-Size

Blick zurück nach vorn

Untertitel
Musiksendungen zum Millenium
Publikationsdatum
Body
Gebannt erwartet man das immer schneller heranrasende Datum der Jahrtausendwende. Es handelt sich dabei zwar eher um eine marginale Marke der Zeitrechnung – die nicht einmal von den anderen Religionen geteilt wird –, trotzdem verbinden die Menschen damit alles mögliche: Aufbruchs- und Fin-de-siècle-Stimmung, Angst und Euphorie, vor allem aber nutzen sie den Moment des Übergangs vom Heute zum Morgen auch selbstvergewissernd für einen Blick zurück und indirekt möglichst auch in die Zukunft. Vom Innen und Außen der Klänge (SWR) Für die musikalische Standortbestimmung bieten der Sender Freies Berlin, der Südwestrundfunk und der Bayerische Rundfunk jeweils eine eigene Sendereihe an. So strahlt der SFB seit Jahresanfang in Radio 3 jeweils dienstags bis donnerstags die Sendereihe „Das war das 20. Jahrhundert! Eine Musikgeschichte in 100 Komponistenporträts" von Martin Demmler aus. Eine Stunde lang unternimmt Demmler in essayistischer Form einen persönlichen Blick auf eine Persönlichkeit der Musik des 20. Jahrhunderts, in der Folge säuberlich geordnet nach dem Geburtsjahr. Nach der Sommerpause startet die Reihe wieder am 29. September mit Beiträgen über Morton Feldman, György Kurtág und Karlheinz Stockhausen, im Dezember endet sie mit Adriana Hölszky, Toshio Hosokawa und Mark-Anthony Turnage. Wer sich mehr in der Breite auf aktuelle Diskurse, Diskussionen und Widersprüchliches einlassen will, dem verspricht die Sendereihe „Vom Innen und Außen der Klänge – Die Hörgeschichte der Musik des 20. Jahrhunderts" von Armin Köhler einen an- und vielleicht auch schwindelerregenden Blick auf die ganze Breite der Gegenwartsmusik. Mit ihren 120 Sendungen vom 6. September 1999 bis in den November 2002 leistet sie einen wahrhaft zyklopischen Kraftakt. Die Rückschau auf die Gegenwart ist ein Gemeinschaftswerk von 46 Autoren aus dem In- und Ausland, Komponisten, Musikwissenschaftlern und -publizisten und versucht nicht, die zeitgenössische Musik ein- oder ausgrenzend historisch zu ordnen, sondern will ihr Wurzelwerk bloßlegen, das Hören und die Umstände ihres Hörens multiperspektivisch durchleuchten. Die Themen reichen von Musik und Medien über verschiedene Kompositionstechniken und -schulen bis hin zu außereuropäischen Anregungen, lassen auch die Popmusik nicht außen vor. Daß sich mitunter gegensätzliche Beiträge ergänzen oder thematisch ähnliche einander widersprechen ist dabei zentrales und belebendes Moment der Sendereihe. Einen gleichermaßen geist- als auch lustvollen Zugang, und dann noch über fast die ganze (bekannte) Musikgeschichte, eröffnet die Sendereihe des Bayerischen Rundfunks „Schnittpunkte – 1.000 Jahre Musik in zwölf Szenen" von Reinhard Schulz, ab dem 11. Januar 2000, jeweils am ersten Dienstag im Monat (Bayern 2). Auch hier vermeidet man den kategorisierenden Blick des Historikers. Der Autor sucht Brennpunkte der Musikgeschichte auf, charakterisiert mit den Mitteln des Hörspiels Situationen und Zeitumstände der Vergangenheit und greift in einer Mischung aus Erfundenem und Dokumentation in das pralle Leben der Auseinandersetzungen um Musik hinein. Die Stationen führen von einem Ketzergericht in Rom bis zur Gegenwart in Becketts Tonne, sind voller Aus- und Seitenblicke auf Kunst, Gesellschaft, Philosophie und Zukunft der jeweiligen Gegenwart. Auf diese Weise kann der Hörer etwa an einer Fürstenhochzeit im Frühbarock oder bei gehobenen Gesprächen in den Salons des 19. Jahrhunderts teilnehmen, erlebt Dialoge, wie sie damals hätten geführt werden können, oder er ist mit dabei, wenn die abgehobene Avantgarde verspottet wird – bei einem Jahrmarktsspiel um 1400. Vor allem kommt die Musik zu Gehör; daß um sie zumeist kräftig gestritten wird, bringt zu Bewußtsein, daß noch nie zuvor kühner in Musik gedacht wurde. Seltsam: Manches von dem, was die Musiker der Vergangenheit beim Streit ins Feld führen, klingt nicht nur vertraut, sondern ist sogar brisant. Hat die Vergangenheit die Gegenwart noch so fest im Griff? Oder ändern sich Mensch und Musik in ihrem Verhältnis zueinander vielleicht nur wenig? Insgesamt gesehen kann also von einer eindeutigen Standortbestimmung keine Rede sein. Der historische Blick auf die Gegenwart zeigt vor allem eins: Die Gegenwart ist offen, ihren Horizont kann der Mensch nur in Ausschnitten erfassen. Und was können, was wollen wir daraus für die Zukunft schließen? Nichts. Denn die Zukunft hat bereits begonnen.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!