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Das Bestiarium als Film und als Computerspiel

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 Der Film trägt, wie das ihm zugrunde liegende Theaterwerk Kagels, den Titel „Bestiarium". Nicht nur wegen der telegenen Moorhühner, auch wegen der wachsenden Verrohung des allgemeinen realen Lebens wirkt Kagels „Bestiarium" heute noch erschreckender als bei seinem Erscheinen 1976.

In diesen Tagen erregt ein Computerspiel die Öffentlichkeit: Tierschützer, Pädagogen und Arbeitgeber sind entsetzt – letztere allerdings nur deshalb, weil sie durch die sich ausbreitende Sucht ihres Personals Arbeitszeit- und damit Betriebsverluste erleiden. Arbeitnehmer, soweit es sich bei ihnen um Computerfreaks handelt, sind dagegen ebenso begeistert wie Schüler oder Studenten: Das Jagdfieber auf schottische Moorhühner hat sie gepackt. Unablässig steigen die lustigen, fröhlichen Flugtiere über der anmutig-hügeligen Landschaft in die Lüfte, mal ganz nahe, dann wieder sehr fern und hoch. Doch der gute, schnelle Computerschütze nimmt alle gleich rasch ins Bildschirmfadenkreuz, ein Mausklick und schon stürzt wieder ein getroffenes Moorhuhn ins Moor oder auch nur ins grüne Gras. Je nach Schwierigkeit, in Entfernungen gemessen, gibt es Punkte. Wer die meisten hat, hat gewonnen. Gefahr für den Schützen besteht nicht. Keine TV-Krähe hackt ihm die Augen aus. Doch die sich häufenden Proteste haben den Hersteller, eine bekannte schottische Whisky-Destillation, bewogen, für die nächste Ausgabe des Hühnerabschießens mehr Chancengleichkeit einzuprogrammieren - vielleicht einen Pitbull, der aus dem Bildschirm springt und dem Schützen an die Gurgel? In dieser Situation trifft es sich gut, dass demnächst im Fernsehen ein Film zu sehen sein wird, den der Komponist Mauricio Kagel kürzlich fertiggestellt und beim Midem-Festival in Cannes vorgeführt hat. Der Film trägt, wie das ihm zugrunde liegende Theaterwerk Kagels, den Titel „Bestiarium". Nicht nur wegen der telegenen Moorhühner, auch wegen der wachsenden Verrohung des allgemeinen realen Lebens wirkt Kagels „Bestiarium" heute noch erschreckender als bei seinem Erscheinen 1976. class="bild">Kagel am Computer (Foto: CHarlotte Oswald (c) 2000)

Dabei braucht Kagel nicht einmal die realen Schreckensbilder der Mondo-Cane-Welt und ihrer spekulativen Film-Machwerke zu bemühen. Ihm genügen zwei mittelgroße Tischbühnen, eine Reihe aufblasbarer Plastiktiere von unübersehbarer Kitschigkeit und je ein Satz brasilianischer und französischer Lockpfeifen, mit denen sich die Lebensäußerungen unterschiedlichster Tiere nachahmen lassen, auch die Sterbenslaute der gequälten Kreaturen. Das Verfahren nennt Kagel „visualisierte Musik", was sich ziemlich böse anhört und auch so gemeint ist. Kagel bezeichnet die Form seines „Bestiariums" als „Klangfabeln auf zwei Tischbühnen" und in dieser einfachen und zugleich konzentrierenden Gestalt erscheint das Stück nun auch auf der Leinwand (dem Bildschirm). Abgebildet und reflektiert wird das komplexe Verhältnis zwischen Tier und Mensch, Mensch und Tier. Die zwei Tischbühnen gestatten dabei spezielle Spiegelfunktionen, auch der Mensch erscheint als Verwerteter und Vernichteter, wenn er zum Beispiel eine Schweinemaske oder Hörner aufgesetzt erhält. Kagels scheinbar kühle Vorführung, die spielerische Leichtigkeit ist jedoch nur die Vorderseite: Zärtlich und liebevoll baut einer der Spieler (der Mensch!) ein Plastikwesen auf, bläst behutsam Lebensluft in den Korpus und traktiert dann im jähen Umschwung das Tier mit heftigen Faustschlägen, das die Luft aus dem Körper entweicht und ihn schlaff zusammensacken lässt. Gerade dieses Entweichen der Lebensluft aus einem Körper ist es, der die ja doch so toten Plastiktiere für den Betrachter plötzlich in schmerzende Nähe zu rücken vermag. Wie geht bei einem Menschen die „Luft" aus? Sieht es nicht vielleicht sehr ähnlich und bestürzend aus? Kagel demonstriert solche Vorgänge in Bild, Klang und Zeichen mit bedrängender Dichte, und es ist, wie schon im Theaterspiel so jetzt auch im Film, die Präzision, die diagnostizierende Beobachtung, die kühle Demonstration, die einen von Minute zu Minute immer stärker in die „Klangfabeln" hineinsaugen, die Szenen und Bilder von Aggression, Gewalt, Zärtlichkeit und Leidensfähigkeit schmerzhaft zu Bewußtsein bringen. Kagels „Bestiarium" entspringt einem Verständnis von Kunst, das sich nie von seinen gesellschaftlichen Bindungen entfernt hat. Das scheinbar Absurde ist die Normalität, das Surreale die Realität. Die virtuelle Moorhuhnjagd erscheint auf diesem Hintergrund auch nur als Realität, in der Moorhühner und anderes Getier nicht nur auf dem Bildschirm abgeknallt werden. Mit dem „kategorischen Imperativ" von Kagels „Bestiarium" hat das nichts gemein, aber es gehört als Phänomen der Gegenwart mit ins „Bestiarium" hinein. Als Realakt oder auch „nur" als Computerspiel. Zu unserem Bild: Mauricio Kagel (vorn) und der Produzent Lothar Mattner bei der Fertigstellung des „Bestiarium"-Films im Studio des Westdeutschen Rundfunks in Köln. Auf den Bildschirmen sieht man den „sterbenden Schwan".

Foto: Charlotte Oswald

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