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Die mediale Kernschmelze

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Über die Ungewissheit digitaler Bildung und neue Einfalt
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Nicht erst der Mordanschlag eines ehemaligen Schülers im Gutenberg-Gymnasium in Erfurt hat zu einer weit reichenden Diskussion über die Verwendung und den Besitz von Schusswaffen bei „jungen Menschen“ geführt, nicht minder kontrovers wird über einen vernünftigen Einsatz von digitalen Medien (Internet, Computerspiele) bei der Bildung von Menschen beraten, gestritten und vielleicht auch bald verordnet.

Nicht erst der Mordanschlag eines ehemaligen Schülers im Gutenberg-Gymnasium in Erfurt hat zu einer weit reichenden Diskussion über die Verwendung und den Besitz von Schusswaffen bei „jungen Menschen“ geführt, nicht minder kontrovers wird über einen vernünftigen Einsatz von digitalen Medien (Internet, Computerspiele) bei der Bildung von Menschen beraten, gestritten und vielleicht auch bald verordnet. Bevor man sich mit der letzten Frage überhaupt beschäftigen kann, zeigt allein die Tatsache, dass darüber keine Klarheit besteht, dass man auch heute noch sehr wenig über den Einfluss der Umwelt auf die emotionale, soziale und psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen weiß. Schnell ist man jedoch bei der Zuschreibung monokausaler Beziehungen zwischen der neuen Kinderwelt und ihrer Wirkung in der Gesellschaft. So genannte Ballerspiele, meinen da einige, fördern die Bildung von emotionaler Kälte. Und diese zeige sich nicht bloß digital-abstrakt, sondern tatsächlich im handelnden Menschen selbst. Aber macht das wirklich das Problem der gewalttätigen Computerspiele aus? War also früher alles besser? So einfach liegt das Problem nicht. Die emotionale Kälte, die sich nachdrücklich in den Kriegen des letzten Jahrhunderts gezeigt hat, war eben nicht Folge der digitalen Welt, sondern schon der analogen. Und eines der emotionsreichsten Mittel, welches seinen Beitrag dazu ablieferte, war auch Musik. Es fällt schon nicht leicht, zu sagen, ob es sich bei diesen Spielen um die Simulation von Fiktion, Simulationen von Fiktionen der Realität, oder Realität handelt. Die Betroffenen selbst sehen das zu großen Teilen viel banaler. Für sie gelten diese Spiele, gerade im Zusammenspiel mit vielen Gleichgesinnten, als soziale Koordinationsspiele. Dagegen kann man einwenden, dass es dafür durchaus bessere Wege und Mittel gäbe, zum Beispiel das Orchesterspiel. Doch das Leben in der modernen Gesellschaft ist leider selten so einfach und so kuschelig.

In einem sehr bemerkenswerten Aufsatz „Machen Computer intelligent? Einflüsse digitaler Medien auf die Entwicklung von Kindern“ geht Inga Rapp dem Verhältnis gerade auch in einer von jungen Erwachsenen entwickelten und geprägten Computerwelt nach. Dass dieser Aufsatz in einer Computer-Zeitschrift erschienen ist (ct – Magazin für Computertechnik, 10/2002) ist ebenso bezeichnend wie auch ein gutes Zeichen. Denn die Selbstbefragung insbesondere der „Techniker“ des Schicksals der digitalen Welt ist mindestens so nötig, wie die Öffnung der Augen für die digitale Welt aus dem Blickwinkel der Schmusepädagogen (nichts gegen Schmusen, wahrscheinlich eine der wichtigsten Tätigkeiten von Menschen). Inga Rapp stellt in diesem Aufsatz aktuelle Untersuchungen zum Thema vor. Ein Schwerpunkt liegt auf der messbaren Veränderung des Einflusses neuer Medien in IQ-Tests. Sie lässt aber auch den Pädagogen Steffen Aufenanger zu Wort kommen. Aufenanger kann dem frühen Umgang mit den neuen Medien durchaus positive Effekte abgewinnen. So erweitern seiner Meinung nach die Medien den „kindlichen Erfahrungsraum. Kinder sollen die Fähigkeit entwickeln, sich in vernetzten, komplexen Strukturen zurechtzufinden. Er spricht von der ‚Fähigkeit zum Multitasking‘.“ (Rapp).

Inga Rapp äußert am Ende ihres Aufsatzes die Befürchtung: „So mag nicht mehr der vereinsamte, blasse oder kränkliche ‚Nerd‘ [konservativer Einfaltspinsel, einfältiger Konsument; M.H.] als befürchtetes Ergebnis einer digital geprägten Kindheit erscheinen, sondern vielleicht ein strahlender, gut aussehender Mensch, dessen Augen jedoch beim Lächeln kalt bleiben – der streng logisch und strategisch denkt, eiskalt und berechnend, unsensibel für die Menschen in seiner Umgebung ist und ohne Gewissensbisse andere verletzt. Dieser Mensch trägt kaum noch Kreativität, Fantasie und Entdeckerfreude in sich. Er ist nicht mehr fähig, die Welt zu erleben, sondern er muss sie beherrschen, funktionierbar machen, damit er selbst funktionieren kann. Dergleichen Befürchtungen mögen für manchen wie die Angst des Urgroßvaters vor dem motorisierten Straßenverkehr erscheinen. Wer sie allzu voreilig vom Tisch wischen will, beweist dadurch jedoch nur, dass er das ihm selbstverständlich Gewordene bereits nicht mehr zu hinterfragen vermag oder die Sensibilität für die Sorge verloren hat, eine Erwachsenenwelt mit ihrer digital geprägten, schwerpunktmäßig auf Leute zwischen 20 und 30 zugeschnittenen Kultur könnte es den Kindern in zunehmendem Maße verwehren, wirklich Kind sein zu dürfen.“ Gerade die letzte Vermutung mag bedrückend wirken, zumal wenn man sie ausdehnt: Menschen, denen die Kindheit genommen wird, die werden auch nur auf sehr reduzierte Weise erwachsen.

In Kneipen, Diskotheken, Schanklokalen oder Restaurants hängt neben oder hinter der Theke, meistens bedeutungsvoll gerahmt, ein Gesetz: Das Gesetz zum Schutz der Jugend. Das ist Pflicht, und dass man es einhält, wird vorausgesetzt. Der Einfluss von Alkohol auf jugendliche Seelen gilt mitunter als verheerend. Hier gibt sich der Gesetzgeber sehr viel Mühe. Dass im Internet ebenfalls jugendgefährdende Inhalte hinterlegt sind, ist bekannt. Doch weder auf noch neben dem Computer, und nur auf wenigen Internetseiten selbst sind ähnliche Hinweise angebracht. Außer der Tatsache, dass der Computer für die Durchsetzung eines Jugendschutzes an sich selbst nicht in Betracht kommt, ist auch der Aufbau und die Struktur des Internets nicht dazu geeignet, ein solches Gesetz zur Anwendung zu bringen. Staatliche Zensurmaßnahmen, wie zuletzt in Nordrhein-Westfalen probiert, stoßen aufseiten von Bürgerrechtlern auf eine deutliche Ablehnung. (Zum Thema „Überwachung neuer Kommunikationstechnologien“ siehe auch die aktuelle Ausgabe 71 der Zeitschrift „Bürgerrechte & Polizei“ – Info: http://www.cilip.de). Softwaregesteuerte Filtersysteme funktionieren nur mittelmäßig (siehe auch Webwatch). Das Internet mit all seinen Systemen (Usenet, Mail, FTP, IRC...) erhöht damit den Druck auf eine Selbstüberwachung. Im gleichen Zuge sind Begriffe wie Privatsphäre nur schwer einzulösen. Der technische Aufwand und die Absprachen zwischen Kommunikationsteilnehmern gelten vielen als zu aufwändig. Und so stehen von der Mail bis zum Home-Banking bösen Geistern allemal alle Türen offen. Wer sich so im realen Leben verhalten würde, den würde man für verrückt erklären oder wenigstens für extrem naiv. Diese Diskrepanz zwischen virtuellem und realem Verhalten zeigt noch ein weiteres Mal, wie wenig die Welt des elektronischen Datenverkehrs als Mittel der Kommunikation Ernst genommen wird. So gesehen verhalten sich selbst Erwachsene eigentlich wie Babies. Das Netz ist weit davon entfernt eine vernünftige selbstorganisierte Gesellschaft zu sein.

Ein bisschen erinnert der Umgang mit den neuen Medien an die Geschichte der Madame Curie. Ihre Forschungen an radioaktivem Material waren sehr kostbar und wichtig. Sie hatten jedoch für Madame Curie extrem gesundheitsschädliche Folgen. Sie fügte sich übelste Verbrennungen mit ihrem Forschungsgegenstand zu. Ob wir und unsere Jugendlichen sich ähnlich verbrennen werden, wissen wir (noch) nicht.

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