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Die Stream-Dreams der Kellerkinder

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Im Nischenmarkt Jazz werden aus Spielstätten plötzlich Produzenten und Sendestationen
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Es geht um Mehrwert. Und um die Reihenfolge. Ersteres ist eine Frage der Perspektive, Letzteres betrifft die Technik- und Konsumgeschichte. Und beides die Musik.

Vor der Pandemie war Streaming vor allem ein Verteilungsangebot digitalisierbarer Entertainment-Inhalte. Innerhalb eines guten Jahrzehnts ging man in mühsamer Verhandlungsarbeit gegen konsum­anarchische Ideen der Freiheit gegenüber urheberrechtlichen Ansprüchen vor. Quasi nebenbei hatten sich grundlegende Vorstellungen verändert: Aus dem titelbezogenen Modell, wobei der  Künstler für einzelne Leistungen honoriert wurden, war ein Abo-System geworden, das pauschal eine gestalterische Dienstleistung entlohnte. Im Verständnis eigentlich ein immenser Schritt, der lieb gewordene und lukrative Gewohnheiten vom Tonträgerbesitz (was genau genommen auch nur den Besitz einer auf Tonträger fixierten Lizenz bedeutete, aber als Eigentum wahrgenommen wurde) bis zum Verkauf von Alben oder Filmen in Plastikschachteln Vergangenheit werden ließ. Aus Kunst wurde Content, und sobald die entsprechenden Anschlüsse und Endgeräte zur Verfügung standen, um diesem Konsum bequem frönen zu können, zogen die Kunden mit. Künstler, Vertriebe, Verlage unkten. Aber sie hatten ja noch das Live-Geschäft und konzentrierten sich darauf. Dann kam die Pandemie. Mit einem Mal war kein Geschäftsmodell mehr vorhanden, auf das man als Künstler zurückgreifen konnte. Spotify, Apple, Netflix oder Amazon verkauften Content, den Zugang zu Mengenware. Die Kunden hatten sich in diesem Angebot eingerichtet, die Portale profitierten, Künstler standen vor dem Nichts. Denn die Idee, Einzelstückware zu verkaufen, war nicht mehr Konsens.

Alternative Vertriebswege fehlten, eigenständige künstlerische Formate ebenfalls. Clubbetreiber saßen am leeren Tresen, die Planungsunsicherheit des launischen politischen Pandemiemanagements erschwerte darüber hinaus glimmenden Optimismus. Manche hatten wie das technisch hochgerüstete „Moods“ in Zürich oder das in „Porgy & Bess“ in Wien bereits die Ausstattung, Musik auch ins Netz zu schicken. Andere hängten sich hinein wie der „Jazzclub Unterfahrt“ in München, der den leeren Laden neu verkabelte, Kameras installierte und Ostern 2020 mit ersten Streams sein Glück versuchte. Manches ging schief, aber innerhalb eines knappen Jahres gingen rund 200 Konzerte online mit selten weniger als 150 dauerhaften Zuschauern, kostenlos zu sehen über Social Media und YouTube. Ein Bluesbarde schaffte es sogar auf 1.000 dauerhafte Fans am abendlichen Rechner. Spenden, Vereinsbeiträge und Förderung ermöglichen nennenswerte Honorare für die Musiker. Ein Erfolg, im kleinen Rahmen. Andere Clubs sind ebenfalls online aktiv, der Jazzclub in Augsburg, das „A-Trane“ in Berlin, das „King Georg“ in Köln, viele bieten Konzerte als Stream. Der britische Anbieter jazzed.com expandiert sogar von London aus mit regionalen und internationalen Angeboten. Sah man den Übertragungen zu Beginn der Lockdown-Wellen das Provisorische an, so sind Bilder, Sound und Gesamtqualität inzwischen oft so professionell, dass sie sich kaum noch von einer Fernsehübertragung unterscheiden (die es ihrerseits allerdings kaum noch gibt).

Das ist schön, löst aber nicht die Frage nach dem Mehrwert. Bislang funktionieren Konzertstreams vor allem als Überlebenssignal. Sie werden von einem Live-entwöhnten Publikum gewürdigt, haben aber kaum eigenständige Erzählformen darüber hinaus entwickelt. Das aus der analogen Welt gerettete Format von anno dazumal – Künstler spielt linear stückweise sein Konzert – tritt zunehmend in Konkurrenz mit dem Stream als Content. Interessen und Konsumzeitbudgets prallen aufeinander. Nutzer wollen Unterhaltung, Vielfalt, womöglich Überraschung, auf Dauer vermutlich Bequemlichkeit, am besten ohne zusätzliche Kosten mit bereits vorhandenen Abos, oder aber mit einem vergleichbar breit aufgestellten, leicht bedienbaren  Angebot. Musiker hingegen wollen ihre Kunst promoten und davon leben können. Restsolidaritäten sorgen bislang dafür, dass weiterhin gespendet wird. Hybride Formate, als Doppel-Angebot von Stream- und Analogkonzert, werden aus der Erfahrung dieser Gegenwart in Zukunft Standard werden. Wie sie aussehen werden, ist offen.

Das liegt auch an Punkt zwei, der umgekehrten Reihenfolge des Konsumverhaltens. Bislang wurden Vermittlungsformate von der Langspielplatte und der CD bis zum Stream-Portal von der Industrie entwickelt, veröffentlicht, promotet und von den entsprechenden Vermarktungsstrategien begleitet. Konzert-Streams wie auch simultan heranwachsende Video-Podcasts hingegen haben bislang kein fertig entwickeltes Geschäftsmodell, keine klar definierten Bedürfnisse, weder auf Seiten der Industrie, noch auf der der Künstler und Konsumenten. Die Wertschöpfungskette ist diffus, die Nische im Falle des unter zwei Prozent Marktanteil liegenden Jazz merkantil eher ein Orchideenfach als die Perspektive auf Reibach. Das bedeutet einerseits Freiheit für Experimente, für Crossover mit Social Media, mit Gaming, mit unterschiedlichen Entertainment-Profis der digitalen Vermittlung.

Es heißt aber auch, dass Bedürfnisse geschaffen werden müssen. Jazz muss verständlich machen können, warum der Mensch am Bildschirm ihn in dieser Form abseits des analogen Live-Erlebens unbedingt hören und sehen wollen muss. Er muss den Mehrwert des Formats erkennen, entwickeln und vermitteln. Wenn erst die großen Streaming-Player ein Geschäft wittern, wird es für den einzelnen mühsam. Disney Plus hat mit dem Animations-Film „Soul“ bereits einen Versuchsballon gestartet.

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