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Ein kühner Lotse verlässt das Schiff

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Zum Beitrag Michael Jennes für das Weltorchester der Jeunesses Musicales
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Nach Konzerten in Kanada und den USA erlebte das Weltorchester der Jeunesses Musicales in diesem Sommer bei acht Auftritten zusammen mit Kurt Masur und Anne-Sophie Mutter geradezu triumphale Erfolge. Trotz teilweise sehr hoher Kartenpreise (bis 400 Mark in Baden-Baden) waren fast alle Konzerte ausverkauft. Den kulturpolitischen Höhepunkt bildete das Gedenkkonzert in Warschau, das am 3. September an den deutschen Überfall von 1939 erinnerte. Die Bedeutung dieses Ereignisses wurde durch die Anwesenheit des polnischen Ministerpräsidenten und des deutschen Bundeskanzlers unterstrichen. Diese enorme Resonanz geht zu einem wesentlichen Teil auf Michael Jenne zurück. Seit seiner Gründung im Jahre 1970 ist er mit dem Orchester verbunden. Als Soziologe war er in Berlin zunächst (wie Elmar Weingarten, der heutige Intendant des Berliner Philharmonischen Orchesters) am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung tätig, danach am Internationalen Institut für traditionelle Musik. Ein Schlüsselerlebnis hatte für den Schüler der Besuch des Musikcamps in Interlochen/Michigan bedeutet. Er fasste damals die Idee, einmal eine ähnliche musikalische Sommerakademie in Deutschland einzurichten. Mit Unterstützung eines verständnisvollen Berliner Senatsdirektors konnte 1965 im Jagdschloss Glienicke – damals noch unmittelbar an der Grenze gelegen – tatsächlich ein internationaler Kurs für Orchester- und Kammermusik gestartet werden. Patenschaften übernahmen Siegfried Borris und Boris Blacher. Mit diesem Kurs begann für Michael Jenne die Zusammenarbeit mit der Jeunesses Musicales, deren Bundesvorstand er ab 1966 zugehörte. Wegen seiner Auslandserfahrungen übernahm er das Außenreferat, das ihn auch während seiner Amtszeit als Bundesvorsitzender (1983–1992) besonders interessierte. Häufig vertrat er nun die deutsche Sektion auf internationalen Kongressen. Als 1969 in Budapest die Gründung des Weltorches-ters beschlossen wurde, berief man ihn in das entsprechende Komitee. Die Arbeitsphase des neugegründeten Orchesters im Sommer 1972 in Weikersheim erwies sich als durchschlagender Erfolg. Nach Proben mit Witold Rowicki nahm das Orchester am Kulturprogramm der Münchner Olympiade teil. Kühner Traum realisiert Seitdem bemühte sich Jenne, das Weltorchester möglichst oft in die Bundesrepublik einzuladen. So kam es 1981 zu einer Probenphase mit Cristobal Halffter und Yehudi Menuhin in dem bereits vertrauten Jagdschloss Glienicke. Schnell entwickelte sich die Idee, das Orchester 1987 zur 750-Jahr-Feier der Stadt erneut nach Berlin einzuladen. Ein Engländer fragte tollkühn, ob die jungen Musiker nicht in beiden Teilen der Stadt auftreten könnten. Dank der Zähigkeit Michael Jennes konnte dieser kühne Traum tatsächlich realisiert werden: 1987 führte das Weltorchester sowohl in der Philharmonie als auch im Konzerthaus am Gendarmenmarkt das „War Requiem“ von Benjamin Britten auf. Mit der von Komponisten der Bundesrepublik und der DDR gemeinsam geschaffenen „Jüdischen Chronik“ eröffnete es außerdem die Berliner Festwochen. Dieser Sommer brachte dem Orchester eine so starke künstlerische und politische Resonanz wie nie zuvor. Nach diesen Konzerten äußerten mehrere Berliner Politiker, unter ihnen Eberhard Diepgen, den Wunsch, das Orchester dauerhaft an die Spree zu ziehen. Gemeinsam mit dem damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger entwickelte Jenne drei Essentials: 1) ein Sitz in Berlin/W., 2) die Einrichtung eines festen Managements, 3) zusätzlich zu den üblichen Sommerarbeitsphasen auch Berliner Arbeitstreffen im Winter. 1988 wurden diese Pläne realisiert, wobei Jenne das Orchester-Management übernahm. Um sich ganz dieser Tätigkeit widmen zu können, beendete er 1991 seine Mitarbeit am Internationalen Institut für traditionelle Musik. Mit Hilfe der Senatsverwaltung für Jugend und Sport konnte für Geschäftstelle und Winterarbeitsphase eine gemeinsame Finanzierung durch Bund und Länder gefunden werden. Aufgestockte Förderung Zu Finanzproblemen kam es nach dem Rückzug der neuen Bundesfamilienministerin Angelika Merkel. Aber der neue Jugendsenator Thomas Krüger und sein Staatssekretär Klaus Löhe sprangen ein und ermöglichten, unterstützt durch den SPD-Abgeordneten Nikolaus Sander, eine aufgestockte Berliner Förderung, ergänzt durch Sponsorenmittel. Da nun die Jeunesses Musicales Deutschland als Träger des Orchesters fungierte, legte Jenne auch sein Amt als Bundesvorsitzender nieder, um Interessenkonflikten aus dem Wege zu gehen. Ein eingetragener Verein mit Sitz in Berlin/W. wurde gegründet, der die Trägerschaft übernahm. Das ehemalige Orchester-Komitee der Jeunesses Musicales verwandelte sich zum Direktorat, also zum Vereinsvorstand. Auf Initiative Jennes erhielt das Orchester in Yakov Kreizberg einen künstlerischen Berater, der nicht zuletzt die Proben und Konzerte der Winterarbeitsphase leitet. Die hervorragenden Januarkonzerte in der Berliner Philharmonie sind inzwischen zu einer festen Institution geworden. Dazu gehört die Begrüßung durch den Orchesterdirektor, der die verschiedenen Nationalitäten der Musiker aufruft. Dieser Brauch kam an und wurde auch von anderen internationalen Jugendorchestern, etwa beim Verbier-Festival, aufgegriffen. Über Jahre hinweg leistete Jenne seine verantwortungsvolle Arbeit auf der Basis von Zeitverträgen „ohne Netz und doppelten Boden“ – immer in Erwartung eines ordentlichen Vertrages. Diesen schickte das Direktorat erst 1998. Als bereits ein Jahr später die Kündigung folgte, suchte der von dieser Nachricht alarmierte Staatssekretär Löhe gemeinsam mit Michael Jenne, Christian Höppner, dem Präsidenten des Landesmusikrates, sowie mit Axel Gerhardt, dem Mitglied des Berliner Philharmonischen Orchesters, und Nikolaus Sander als Mitglied des Direktorats nach einer Lösung. Aber trotz hartnäckiger Nachfragen verweigerte Sander eine Auskunft über den Kündigungsgrund. 1970 war die Gründung des Weltorchesters eine Pioniertat gewesen. Inzwischen sind Neugründungen wie das Jugendorchester des Schleswig-Holstein-Festivals oder das Europäische Jugendorchester diesem Vorbild gefolgt. Unter Jennes Leitung wuchs das künstlerische und politische Gewicht des Weltorchesters beträchtlich. 1996 wurde ihm als erstem Ensemble überhaupt der Titel „UNESCO-Botschafter des guten Willens“ zugesprochen. Es ist wohl unvermeidbar, dass Konflikte und auch Neid auftauchten. Gelegentlich wurde das Fehlen eines Generalsponsors vermisst oder man verübelte dem Direktor die Wahl einiger Auftrittsorte. Laut Generalsekretär der Jeunesses Musicales Deutschland, Thomas Rietschel, gab es außerdem Kritik an fehlender langfristiger Planung oder an mangelnden Auftritten im Zusammenhang mit der Winterarbeitsphase. Aber ist dies Grund genug, einen so ideenreichen Organisator zu entlassen? Verfehlungen liegen nicht vor, wie dem Betroffenen ausdrücklich versichert wurde. Offenbar wünschte das fünfköpfige Direktorat vor allem einen Generationswechsel. Als der gerade 60-jährige Orchesterdirektor in den letzten Wochen seiner Amtszeit die noch von ihm geplante Sommertournee begleitete, besuchte er in den USA auch jenes Musikcamp von Interlochen, wo er die erste Anregung für seine künftige Arbeit erhalten hatte. Damit schloss sich ein Kreis... Auf Jennes Entlassung gab es inzwischen erste Reaktionen (vgl. die Stellungnahme des Landesmusikrats). Ingrid Stahmer, die Senatorin für Jugend und Sport, dankte unmittelbar nach dem Berliner Konzert dem scheidenden Direktor in Anwesenheit von Maestro Masur und den Orchestermusikern im Namen der Stadt und ihres Regierenden Bürgermeisters Diepgen für seine „geduldig und mit Stil“ geleistete Arbeit: „Michael Jenne hat die Verbindung dieser Stadt zur Welt möglich gemacht.“ Sie hoffe, dass er dem Orchester als Berater verbunden bleibt. Der so Gewürdigte zeigte sich in seiner auf englisch gehaltenen Abschiedsrede als vollendeter Diplomat. Es sei für ihn „not a happy day“. Das Orchester, das er mit Bergen von Erinnerungen zurücklasse, brauche aber weiterhin gute Partner. Nun verlässt der Lotse das Schiff. Man kann nur hoffen, dass es auch ohne ihn seinen gegenwärtig so günstigen Kurs halten kann.

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