Das größte Kulturradio der ARD feiert Jubiläum. Seit fünfzig Jahren sendet WDR 3 als Vollprogramm. Zwei Männer kennen die Welle seit Jahrzehnten von Innen und gestalten das Programm derzeit in verantwortungsvoller Position: der scheidende Hörfunkdirektor des WDR Wolfgang Schmitz und der Programmchef von WDR 3, Professor Karl Karst. Mit Ihnen reden wir über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Kultursenders.
neue musikzeitung: Aus welcher Idee heraus ist WDR 3 damals entstanden?
Wolfgang Schmitz: WDR 3 war von Anfang an als Kulturprogramm gedacht, bei dem ein an klassischer Musik, Bildung, politischer Information und Auseinandersetzung interessiertes Publikum seine Angebote finden sollte. Mit WDR 3 wollte man außerdem die UKW-Verbreitung fördern – die war für Radio damals noch neu.
nmz: Was sind für Sie die wichtigsten Höhepunkte aus 50 Jahren WDR-3-Geschichte?
Karl Karst: Erstens die bis heute wirksamen Experimente des „Studios für elektronische Musik“ mit Produk-
tionen unter anderem von Stockhausen, Kagel, Xenakis und Höller. Zweitens die Uraufführungen der Reihe „Musik der Zeit“ und drittens die WDR-3-Hörspiel-Produktionen sowie die Projekte des „Studios für Akustische Kunst“ bis zur heutigen Sendestrecke „WDR 3 open“. Darüber hinaus die wichtigen Funktionen von WDR 3: Die kritische Kulturberichterstattung – mit Sendungen wie „Kritisches Tagebuch“, „Mosaik“ und „Resonanzen“. Die Funktion des landesweit größten Produzenten und Auftraggebers künstlerischer Arbeiten in Musik und Wort. Und die Vernetzungsfunktion als Kulturplattform mit über 100 Kulturpartnern in NRW.
nmz: Wo steht WDR 3 heute? Wie viele Hörer/-innen erreichen Sie?
Schmitz: WDR 3 erreicht Montag bis Freitag 1,8 Prozent der Menschen in NRW. Das sind annähernd 300.000. Ein Kulturprogramm ist aber ein Minderheitenprogramm. Man kann es nicht an den Zahlen messen, die die Massenprogramme erreichen.
nmz: Schätzen Sie den Blick auf die Quote für ein Kulturradio als wichtig ein?
Schmitz: WDR 3 versteht sich als Kulturplattform in NRW. Ich spreche bei den Kulturplattformen nicht von Quote, sondern von Relevanz und Qualität. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung bezeichnet sich als außerordentlich kulturaffin. Von diesen Leuten sollte ein Kulturprogramm einen nennenswerten Anteil erreichen können. Quote ist kein Wert an sich.
nmz: Es gab im Laufe von 50 Jahren WDR 3 viele Programmreformen: Renommierte Sendungen, zum Beispiel das Kritische Tagebuch, das sie gerade als Höhepunkt aufzählten Herr Karst, wurden abgeschafft. Warum?
Karst: Das Kritische Tagebuch war direkter Ausdruck der Sechziger Jahre. In den Achtzigern hat es gerade noch funktioniert. Dann hat es spürbar an Schlagkraft verloren, so dass die Kulturkritik andere Programmformen brauchte, die dann auch entstanden: Das Kulturradio ist herausgegangen aus dem Elfenbeinturm und hat sich mit der Bevölkerung in direkten Kontakt begeben. Heute ist WDR 3 ein hochaktuelles Kulturradio mit werktäglich acht Stunden Kulturberichterstattung und zugleich der größte Konzertsender und Musikproduzent des Landes mit mehr als 350 Originalkonzerten aus Klassik, Jazz und Weltmusik. Weiterhin ist WDR 3 seit seiner Gründung das Experimentallabor des WDR-Radios, das sich mit der von uns eingeführten WDR-3-Open-Strecke deutlich vergrößert hat.
nmz: Insbesondere die letzte Programmreform 2012 stieß auf großen Widerstand. Die Initiative „Die Radioretter“ beklagte, durch Kürzungen, Streichungen und Wiederholungen würde von einem Kulturradio nur noch wenig übrigbleiben. 19.000 Menschen unterstützten einen offenen Brief an die damalige Intendantin Monika Piel, darunter Prominente wie Richard David Precht und Elke Heidenreich. Wie wichtig ist Ihnen der kulturelle und politische Bildungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks?
Schmitz: Es gab eine Menge Unterschriften, aber von diesen Prominenten sind im Nachhinein viele zu mir gekommen und haben gesagt: „Wenn wir genauer gewusst hätten, um was es da ging, hätten wir so nicht unterschrieben.“ Das war das erste Mal, dass wir mit so einem Shitstorm konfrontiert waren. Da würden wir heute schneller reagieren. Aber die Hörerinnen und Hörer haben dem Programm trotz der kleinen Veränderungen die Treue gehalten.
nmz: Dennoch schrumpft der Feature-Anteil am Programm kontinuierlich?
Schmitz: Es muss unterschiedliche Formen geben: Es kann das Stundenfeature das Mittel der Wahl sein, ein großer Abend, ein Programmtag, aber genauso gut ein dreißig Minuten-Format. Mit dem Stundenfeature erreiche ich bestimmte Leute. Ich möchte aber möglichst viele erreichen, weil auch alle Gebühren bezahlen. Die Masse der Hörer liefert ja eine Quersubventionierung für diese hochqualitativen Angebote.
nmz: Auch aufgrund der musikalischen Gestaltung des Programms nach der Reform 2012 gab es Unzufriedenheit: Die Kritiker beklagten, dass die Musikabteilung aufgelöst wurde und heute nur noch sehr wenige Redakteure für die Gestaltung des Musikprogramms zur Verfügung stehen. Sind Fachkompetenzen, gerade beim Thema Musik, überhaupt noch wichtig?
Karst: Selbstverständlich wurde die Musikabteilung WDR 3 nicht aufgelöst. Im Gegenteil: Die Fachredaktionen wurden gestärkt und es wurden sogar neue Fachteams geschaffen wie „WDR 3 open music“. Die sogenannten „Radioretter“ haben vieles verzerrt und zugespitzt dargestellt, um einen Hype auszulösen, der alle Beteiligten sehr viel Kraft und Zeit gekostet hat. So war die Reform 2012 im Kern keine Programmreform, sondern eine Organisationsreform. Sie war eine dringend notwendige Anpassung der veränderten Workflows des Programms WDR 3. Das Resultat wird mittlerweile sowohl von außen als auch intern sehr positiv bewertet. Die Zusammenarbeit der Fachteams Klassische Musik, Open Music, Hörspiel und Feature ist effektiver und kreativer als je zuvor.
nmz: Lassen Sie uns über die Zukunft von WDR 3 sprechen. Ihre Nachfolgerin ist ab Mai die bisherige Privatradio-Managerin Valerie Weber. Viele WDR-Mitarbeiter protestierten gegen diese Personalentscheidung des neuen Intendanten Tom Buhrow. Sie befürchten die Boulevardisierung der WDR- Wellen. Wagen Sie eine Prognose, wie sich WDR 3 unter Valerie Webers Leitung entwickeln wird?
Schmitz: Ich weiß, dass Valerie Weber beispielsweise eine leidenschaftliche Konzertgängerin ist, schon deshalb liegt ihr das Wohl unserer Klangkörper sehr am Herzen. Ich glaube, es wird für sie eine große Herausforderung sein, Verantwortung für ein Unternehmen zu tragen, in dem vier Klangkörper eine ganz wichtige Rolle spielen. Die WDR-Wellen sind insgesamt seit der letzten Quotenerhebung außerordentlich erfolgreich unterwegs. Also gibt es keinen Bedarf an Revolution.
nmz: Bei seiner technischen Zukunft steht das Radio vor großen Herausforderungen. Eines ist klar: UKW ist überholt. Wie wird man WDR 3 in Zukunft empfangen?
Schmitz: Sie können WDR 3 über UKW empfangen, über Digitalradio, übers Netz. Wir haben seit kurzem sogar einen WDR-3-Konzert-Player. Jetzt sind Sie in der Lage, die wichtigen WDR-3-Konzerte im Netz anzuhören, wann immer Sie Zeit dazu haben. „On Demand“ wird eine immer größere Rolle spielen. Außerdem haben wir den Facebook-Auftritt ausgebaut, wir haben Twitter: Wir müssen bei allen Wellen von dem Selbstverständnis wegkommen, dass wir nur Sender sind. Wir müssen auch Empfänger sein und dialogfähig werden.
nmz: DAB+ hat bis jetzt noch die beste Klangqualität, aber Individualisierbarkeit bietet nur das Internetradio. Beim Online-Radio kann ich heute schon entscheiden: Höre ich nur den Musik-Stream des Senders oder möchte ich auch Wort-Beiträge. Wir sind mit Smartphone und Tablet dauerhaft online. Die Zukunft ist nur im Netz vorstellbar. Wie wollen Sie den Hörern vermitteln, ein teures DAB+-Gerät zu kaufen, wenn es denen wie eine Zwischenlösung vorkommen muss?
Schmitz: Wir glauben, dass es wichtig ist fürs Radio, einen eigenen Verbreitungsweg zu erhalten. Deswegen haben wir den Pilotbetrieb DAB+ noch einmal verlängert. DAB+ hat den Vorteil, dass wir nicht abhängig sind von irgendwelchen Providern, die auf die Idee kommen könnten, die Datenraten zu kürzen oder mit Zuschlägen zu belegen. Radio muss demokratisch bleiben. Natürlich strahlen wir jetzt schon alle unsere WDR-Programme über das Netz aus. Aber wir müssen das lineare Radio stark halten, weil es immer noch von vielen Menschen genutzt wird. Gleichzeitig müssen wir uns auf die Zukunft konzentrieren, also beispielsweise auch Konzepte für „Personal Radio“ entwickeln.
Karst: Wir warten alle auf das eine wunderbare zentrale Endgerät, das alles kann – und eben auch Radio. Je einfacher dieses Gerät ist, desto vielfältiger wird es genutzt werden. Zum Stichwort „Personal Radio“: Es gab und gibt Modelle, dem Hörer die Möglichkeit zu geben, lineare Wortinhalte mit anderen Musikfarben auszuspielen. „1LIVE Kunst“ war so ein Programm: Das Wort kam von WDR 3, die Musik von 1LIVE. „1LIVE Kunst“ wurde leider eingestellt, weil der WDR durch den Rundfunkänderungsstaatsvertrag die Zahl seiner Webkanäle reduzieren musste.
nmz: Macht der Rundfunkänderungsstaatsvertrag die öffentlich-rechtlichen Radiosender zukunftsunfähig?
Karst: Die Vorgabe lautet vereinfacht: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk darf nur das ins Netz stellen, was Programmbezug hat. Das hat dazu geführt, dass bestimmte WDR-Angebote heute im Internet nicht mehr zu finden sind. Kostenfreie, in der Regel gemeinwohlorientierte Inhalte. Die multimediale Kreativität wird durch dieses Verfahren extrem begrenzt. Ändert sich das nicht, kommt es zu spürbaren Beschneidungen der Möglichkeiten eines zukünftigen Radios.
Interview: Ortrun Schütz