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Ethnografische Expedition in eine fremde Welt

Untertitel
„soundstories/materialmeeting“: Neue Konzepte für das Hör-Stück
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Das neue Hörspiel der 60er- und 70er- Jahre, das weg wollte vom Radio-Theater ohne Bild und vom dialogisierten Prosa-Text, ist mittlerweile auch schon Geschichte. Neuere Formen reflektieren noch radikaler das Medium und seine Geschichte – und suchen neben dem Rundfunk andere Formen des Erscheinens, vom Live-„Event“ bis zur Compact Disc.

Das neue Hörspiel der 60er- und 70er- Jahre, das weg wollte vom Radio-Theater ohne Bild und vom dialogisierten Prosa-Text, ist mittlerweile auch schon Geschichte. Neuere Formen reflektieren noch radikaler das Medium und seine Geschichte – und suchen neben dem Rundfunk andere Formen des Erscheinens, vom Live-„Event“ bis zur Compact Disc.Produktiv ist vor allem die Kooperation zwischen den neuen Pop-Literaten und den diversen Sub-Genres elektronischer Musik, die sich in den 90er- Jahren ausdifferenziert haben. In den Texten, die so entstehen, verbinden sich die Extreme: das ungenierte Spiel der Fantasie und die krude Dokumentation; Subjektivität als Ort der Erfahrung, aber auch von Kodes und Konstrukten – und reiner, unverfälschter Original-Ton, Realitäts-Reportage. Und die elektronische Musik erkundet ihre „Ränder“: vom Geräusch über Sound-Ambientes bis zum Klang-Reiz gesprochener Sprache.

Bei den sechs Projekten, um die es hier geht und die unter dem Titel „soundstories/materialmeeting“ nach der Radio-Uraufführung eben auf CD veröffentlicht wurden, kommt noch eines hinzu: die Faszination durchs Archiv. Die zehntausende auf Tonträger gespeicherten Programmstunden sind für die Schriftsteller und Musiker nicht abgetane Radio-Geschichte, die höchstens für Historiker und für Freaks von Interesse ist, sondern explosivster Stoff, der nur auf den zündenden Funken wartet, um seine Potenzen und seine verborgenen, verschobenen, verdrängten Wahrheiten frei zu setzen.

Die Idee ist so anregend, dass das erste Sound-Sightseeing fast ein wenig enttäuscht. Die sechs Soundstorys-Pärchen sind zu aktualitätsfixiert, auch zu subjektiv vorgegangen, um die unheimlichen Archive öffen zu können. Das Material, das sich hier trifft, stammt weitgehend aus der Chronik der laufenden Ereignisse des vergangenen Jahres. Auf Anhieb überzeugend ist das beim Ex-„SPEX“-Chefredakteur und „Whirlpool“-nahen Sound-Bastler Hans Nieswandt und bei Kathrin Röggla, die den poetisch-surrealen Aberwitz des Börsen-Talks direkt den täglichen Medien-Marktschreiereien rund um den stürzenden „Neuen Markt“ entnehmen.
Bei ihnen kann man erfahren, dass Dekonstruktion nicht nur der Lieblings-Slogan post-strukturalistischen Theorie-Chics ist, sondern tatsächlich eine Methode, die es erlaubt, die Macht von Begriffen und gerade herrschenden Diskursen durch Wiederholung, Variation und Verschiebung zu thematisieren, aber auch zu „zerlegen“ und dadurch zu brechen. „Ein Riesen-Abgang“, das ist eine ethnografische Expedition in eine fremde Welt, die unsere ureigene ist. Aus der Verpuppung der grassierenden Wünsche und Ängste entsteht ein Theater der Bizarrerien: Die Börse ist immer schon Bühne, man muss nur zuschauen und zuhören und ab und zu Akzente setzen.

Thomas Meinecke leistet Ähnliches für ein verwandtes Feld der Schein-Produktion: nämlich für die Images, die Pop und Politik, wenn auch konkurrenzhaft, streitend in Bewegung setzen.
„Welche Farbe hat Mariah Carey“ ist eine suggestive Meditation über den Rassismus, der immer schon da ist, bevor überhaupt „sounds“ und „visions“ entstehen. Console setzen neben den hinterfotzig-monotonen Märchen-Sound des Erzählers ein Soundscape-Nirvana, das mit Wohlfühlen genauso kompatibel ist wie mit Verzweiflung. Ein wenig überengagiert und deshalb dem erbarmungslosen Zeitlauf besonders ausgesetzt sind. Caroline Hofers straßennahe Statements zum österreichischen Regierungswechsel, „begleitet“ von Hans Platzgumer, die zeigen, dass „Radikalität“ eine Falle sein kann, wenn man nur das sagt und tut, was allen recht ist und was jeder immer schon erwartet hat.

Material-Meeting

Es ist das P.C.-Paradox, dass einen die aufrechteste Haltung ganz schön krumm ausschauen lassen kann. Vielleicht sollte sich Caroline Hofer an die alte Einsicht Ingeborg Bachmanns erinnern, dass Tapferkeit vor dem Freund sehr viel schwieriger und notwendiger ist als die vor dem Feind. Am ernstesten haben den „materialmeeting“-Gedanken vielleicht Kalle Laar und Co. genommen, die als treue Adepten des Konzepts mit einer Stoff-Sammlung beginnen und diese dann durch den subjektiven Reißwolf drehen: Man kann bei ihnen hören, dass pure Aufzählung und Aneinanderreihung oft schon die wüsteste Kritik ist, weil es das Unhaltbare nicht erträgt, wenn man es beim Namen ruft.

Trotzdem, Marx‘ uralte Idee, den Verhältnissen ihre eigenen Melodie vorzuspielen, um sie zum Tanzen (und zum Platzen) zu bringen, wurde nur in Ansätzen verwirklicht. Manches klingt noch zu beliebig. Aber dieses neueste Sub-Genre der uralten Hörspiel- und Radio-Stück-Tradition hat ja auch die Tücken der Pubertät noch lange nicht hinter sich.

Diskografie:
soundstories/materialmeeting
(Console/Thomas Meinecke; Hans Platzgumer/Caroline Hofer; toroco rot/Stefan Schneider; Hans Nieswandt/Kathrin Röggla; Resut/Thomas Palzer; Kalle Laar/Zeitblom/Ulrich Schlotmann), intermedium records 005; Indigo Vertrieb

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