Jedes Medium imitiert in seinem Ursprung das, an dessen Stelle es tritt. Die ersten Hörspiele waren Theaterstücke für Blinde, die mit akustischen Mitteln einen visuellen Raum entwarfen. Wer hörte, sollte vor allem sehen. Die Dramaturgie war eine der Szene. Seit einer Reihe von Jahren hat sich das radikal geändert. Natürlich gab es schon in den 20er- Jahren Avantgardisten – nicht selten aus dem Umkreis des Films und der neuen Musik –, die paradoxerweise dem Medium Radio gerade deshalb gerecht wurden, weil sie multimedial dachten. 1948 nahm Antonin Artaud, der Surrealist und Erfinder des Theaters der Grausamkeit, ein Hörstück auf, das vordergründig ein deliranter, ekstatischer und absurder Monolog war. Es wurde schließlich verboten, weil die Melange aus abgehackter Sprache, unartikulierten Schreien und puren Geräuschen eine Attacke nicht nur auf das Nervensystem, sondern auf alle Formen kulturell erzeugten und verbürgten Sinns war.
Die ersten Kutschen waren mobile Kammern. Sie imitierten die vertrauten Wohnräume. Der Reisende sollte sich unterwegs wie zu Hause fühlen. Die ersten Luxusautomobile ähnelten Königsdroschken. Sie wollten nichts von den Gesetzen der Aerodynamik wissen. Sie glaubten noch, Geschwindigkeit sei eine Hexerei und vertrage sich bestens mit dem Luxus des Ornaments. Jedes Medium imitiert in seinem Ursprung das, an dessen Stelle es tritt. Die ersten Hörspiele waren Theaterstücke für Blinde, die mit akustischen Mitteln einen visuellen Raum entwarfen. Wer hörte, sollte vor allem sehen. Die Dramaturgie war eine der Szene. Seit einer Reihe von Jahren hat sich das radikal geändert. Natürlich gab es schon in den 20er- Jahren Avantgardisten – nicht selten aus dem Umkreis des Films und der neuen Musik –, die paradoxerweise dem Medium Radio gerade deshalb gerecht wurden, weil sie multimedial dachten. 1948 nahm Antonin Artaud, der Surrealist und Erfinder des Theaters der Grausamkeit, ein Hörstück auf, das vordergründig ein deliranter, ekstatischer und absurder Monolog war. Es wurde schließlich verboten, weil die Melange aus abgehackter Sprache, unartikulierten Schreien und puren Geräuschen eine Attacke nicht nur auf das Nervensystem, sondern auf alle Formen kulturell erzeugten und verbürgten Sinns war.Hierzulande untersuchten konkrete Poeten wie der kürzlich verstorbene Ernst Jandl die Materialität der Sprache: Sie dekonstruierten Sinn – und machten so auf dem Grund der Kommunikation das Lärmen der Ideologien, aber auch die Faszination desemantisierter akustischer Phänomene hörbar.Musiker und Medien-Künstler wie Heiner Goebbels schufen abenteuerliche Montagen aus O-Ton-Dokumenten, poetischen Fragmenten, dem Rauschen der Realität und improvisierter Musik. So wurden die Schönheit, aber auch der Terror der Wirklichkeit zum jähen Hör-Ereignis. Schon bei Heiner Goebbels verschmolzen die Genre-Grenzen: Studio-Produktion, Performance und Konzert gingen oft ineinander über beziehungsweise ein Stück wurde durchlässig für Realisationen in verschiedenen Medien und Orten.
Die neueren Hör-Stücke, wie sie etwa der Bayerische Rundfunk seit einigen Jahren in Serie produziert und auf eine „grand tour“ durch die ARD-Anstalten schickt, gehen darüber hinaus: Ihr Ursprung ist, auf andere Weise als bei Artaud, Jandl oder Goebbels, „literarisch“. Sie gehen von Prosa, Lyrik, manchmal auch von diskur- siven Texten aus und versuchen sie nicht avantgardistisch zuzuspitzen und zu zersplittern, sondern eher so etwas wie das neue, mehrheitsfähige, „mainstreamige“ Hörspiel für das Pop-Zeitalter zu entwickeln.
Kein Wunder, dass im Zentrum dieser Bemühungen der Versuch stand, die Bibel der Beat-Poets, Jack Kerouacs „On the road“, ins Gitarren-Indie und Techno-Zeitalter hinüber zu retten. Kerouacs nicht abreißender Tramper-Dithyrambus hatte als Basis die nervösen Rhythmen der Bebop-Ära. Charlie Parker war der düstere Gott, der aus allen Bindungen befreite. Fast ein halbes Jahrhundert später folgt der große „Flow“ dieses transkontinentalen Unterwegs-Seins nicht, archivarisch und „hirnschwitzend“, den Chorussen dieses zweiten „jazz-age“, sondern als kollektives work in progress den ausdifferenzierten Genres des Jahrtausendendes. Den Grundakkord gibt der Spät-Beatnik Robert Forster vor, ansonsten kommt aber vor allem der aufregend-synthetische Frickel-Sound aus den im weitesten Sinn „House“-Laboratorien der Republik und avanciertes Dee-Jaying zur Geltung.
Das Prinzip dieses sechsteiligen Radio-Abenteuers „on the road“ lautet: Reduktion, Abstraktion, Intensivierung. Aus dem mehrhundertseitigen, sehr repetitiven Prosa-Fluss Kerouacs übernimmt jeder Bearbeiter nur die zu Inbildern und Pop-Mythen verdichteten Stellen und Szenen, die bei manchen unmerklich ins eigene Leben gesickert sind und es auf Dauer verändert haben. Für den „Drive“, der aus noch so verdichteter Prosa erst ein Hörstück macht, sorgt die jeweilige Musik, die den Kerouac-Sound aber auch einfärbt, akzentuiert und kommentiert.
Thomas Meinecke verkörpert das Genre-übergreifende neue Hörspiel in persona. Er ist als Frontmann der Kult-Kapelle FSK seit zwei Jahrzehnten Teil der „poppig“ gewordenen Bundesrepublik. Er ist als Zündfunk-Moderator seit Jahren gewissermaßen der erste DJ im Lande, Bayerns genauso kompetenter wie begeisterter Vorkoster aller avancierteren Klänge. Und er hat als Suhrkamp-Erfolgs-Autor längst die Zinne des Elfenbeinturms Hochkultur genommen. Neuerdings produziert er auch Hörstücke, die man live aufführen, gewissermaßen als Konzerte für Herz und Hirn und bewegungsbereite Körper reinszenieren kann.
Das tat er mit „Tomboy“, seiner großen Erzählung über den kulturellen Ursprung der Geschlechterdifferenz, die, zur Musik-Performance verdichtet, im Radio oder auf CD sehr witzig und sehr suggestiv darlegt, wie vertrackt es sich doch mit der scheinbar „einfachsten“ Sache der Welt, der Identität nämlich, verhält. Als Hör-Ereignis erstreckt sich sein vieldeutiger Text über mehr Ebenen als auf einer simplen Buchseite: im Hintergrund dekliniert Meinecke als eine Art post-moderner Proust in einem scheinbar nicht mehr abbrechenden Parlando alle Finessen der modemäßigen Verkleidung des Geschlechts. Davor bringt er in atemberaubend dichten und plausiblen Diskurs-Übungen alle natürlichen Überzeugungen zum Einsturz und führt cool und ungerührt vor, was aus ihren Ruinen bestenfalls aufersteht: souverän und mit inniger Ironie „gehandelte“ Konstrukte und Artefakte, zwischen denen man, im Interesse eines Flüssig-Werdens der Identitäten und Rollen, im Fall des Falles virtuos wechseln kann.
Dass selbst die subtilste Beobachtung ein theoretisches Fundament hat (und braucht), beweist er mit „Freud’s Baby“, seinem Tomboy-Zwillingsprojekt. Da inszeniert Thomas Meinecke mit viel Sinn für Komik nicht nur die menschlich-allzumenschliche Geburtsstunde der Psychoanalyse, sondern auch all der Unterscheidungen, die er selbst benutzt und deren Vorväter- und Mütter-Ahnen-Kette von Otto Weininger bis Judith Butler reicht. Dass Begriffs-Geschichte und -Politik nicht akademischer Luxus für postmoderne „cultural studies“-Departments sind, führt er en detail vor – und das Lachen bleibt einem gelegentlich vor lauter Grau(s)em im Hals stecken: Wie sich der Antisemitismus im Vienna-Slang der Jahrhundertwende an der Frau vergreift und umgekehrt. So wie die jüdischen Männer nach der Überzeugung der ersten Christen menstruierten und sich eine doppelte Diskriminierung so in einem bizarren Bild verdichtet, so hieß im Fin-de-Siècle-Wien Freuds die Klitoris „der Jud“ und wenn eine Frau masturbierte, dann spielte sie also mit ihrem Juden.
Meinecke erzählt vom Wahnsinn, der sich in den Wörtern verbirgt und jederzeit hervorbrechen kann; dass er das nicht rein diskursiv tut, sondern im Kontext eines aufregenden Konzertes, zu dem Source-Label-Gründer David Moufang alias Move D genau so beitrug wie der legendäre Jazz-Vibraphonist Karl Berger, das gehört zur neuen Unübersichtlichkeit - und Vitalität! – des Genres Hörspiel anno 2000.
Während Meinecke mit allen Festlegungen bricht, indem er als ironischer Diskurs-Historiker zeigt, in welchen Kontexten und „tribalen“ Verkleidungen sie entstehen, benutzt sie der neue Lyrik- und Theater-Star Albert Ostermaier ein letztes Mal. Seine bei Suhrkamp erschienenen Gedichte mit dem vieldeutigen Titel „Heart Core“ sind die Love-Songs eines Machos, der sich behende im Mythen-Labyrinth der Moderne zwischen Motels und Abschieden nach One-Night-Stands bewegt, alles zitiert, was einmal authentisch war, schon mit der (einstweilen noch zärtlichen) Gegenstimme der Frauen rechnet und das Ganze, unterstützt von den Musikern Sebastian Hilken, Patrick Leuschner und G. Ess Zeitblom, zu einem Schlagzeug-getriebenen Gesamtkunstwerks-Pop-Ereignis verdichtet, das im Programmschema der Rundfunkanstalten unter der Rubrik Hörspiel seinen Platz findet und dem schönen Suhrkamp-Band als CD und Zusatz-Argument für junge Käufer beiliegt.
Move D/Thomas Meinecke: Tomboy/Freud’s Baby auch als Doppel-CD bei intermedium records.
Albert Ostermaiers „Heart Core“ als CD-Beilage des gleichnamigen Suhrkamp-Bandes.
Wie die anderen genannten Hörstücke wurden sie von der Redaktion Hörspiel und Medienkunst für den Bayerischen Rundfunk produziert und sind regelmäßig auch in den anderen deutschen Rundfunkanstalten zu hören.