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Musikhunger und Konzertprogramme
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Musikhunger und Konzertprogramme

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Rückblende: Vor 100 Jahren (1922/02)
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Im vergangenen Jahre veranstaltete der von Schönberg begründete und geleitete Wiener Verein für Privataufführungen vier Propagandaabende in Prag. […] Schönberg aber leitete die Vorführungen mit einer Ansprache ein, aus der ich hier nur einiges gedächtnismäßig wiedergebe. Die Komponisten, sagte er, die man heute mit der Marke „Modern“ bezeichne, hätten alle ein Gemeinsames, das immerhin so stark sei, daß man nach Jahrhunderten für die Unterschiedenheit ihrer Stile ebensowenig Verständnis haben werde, wie wir heute etwa die Musiker des 16. Jahrhunderts stilistisch unterscheiden. Das, was sie verbinde, sei eine gemeinsame Sprache.

Die Sprache zu lernen, sei Pflicht aller, die sich irgendwie genießend oder wertend, zur Moderne stellen wollen. […] An diese sehr klugen Worte Schönbergs knüpfe ich an, wenn ich sage, daß unserem Publikum in erschreckendem Maße die Fähigkeit verloren geht, die Tonsprache seiner Zeit wirklich gründlich zu verstehen. Ein Großteil der Schuld daran ist dem Publikum selbst zur Last zu schreiben, dem man im Felde der Musik nur ein Zehntel jener vielbeklagten Neuerungssucht wünschen möchte, die es sonst in Mode, Literatur, Theater und auf vielen gebieten des öffentlichen Lebens bestätigt. Eine Hörfaulheit sondergleichen zeichnet viele sonst recht agile Leute aus. […] Da somit das große Publikum teils nicht will, teils nicht kann, so läuft die Angelegenheit doch zunächst wieder auf das Postulat hinaus, dass der berufsmäßige Vermittler zwischen Schöpfer und Hörer diese Vermittlung nicht bloß auf die „gängige“ Marktware der musikalischen Produktion beschränken möge. […] Ich bin der pessimistischen Ansicht, dass man auf eine Änderung der Dinge kaum hoffen darf. Mögen die dummen Komponisten weiter für die Schreibtischlade schaffen, mögen die nach neuer Nahrung Hungernden weiter hungern, wenn nur das „große“ Publikum, das die Novitäten nicht liebt, „seine“ Klassiker hat, wie eh und je.

Dr. Otto Janowitz, Neue Musik-Zeitung, 43. Jg., 16. Februar 1922

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