Vor 100 Jahren: Die Neue Musik-Zeitung im 4. Jahrzehnt (1909–1919). Mit dem Begriff der Moderne werden gegenwärtig die verschiedensten Vorstellungen vom Wesen und Inhalt eines musikalischen Kunstwerkes verknüpft. +++ Vor 50 Jahren: Opernhäuser in die Luft sprengen? Ich habe alles nicht ohne Humor gesagt, verteidigte Pierre Boulez bewusst überspitzte Formulierungen.
Vor 100 Jahren
Die Neue Musik-Zeitung im 4. Jahrzehnt (1909–1919). Mit dem Begriff der Moderne werden gegenwärtig die verschiedensten Vorstellungen vom Wesen und Inhalt eines musikalischen Kunstwerkes verknüpft. Die Zeit ist vorüber, da sich in der Musik geschlossene Parteien gegenüberstanden, da man auf Wagner und Liszt oder auf Brahms schwor, für Gesamtkunstwerk und Programmmusik kämpfte oder sich zur Ästhetik des Klassizismus bekannte. Durch uns bisher fremde Melodie- und Harmonieschritte und -verbindungen, ja oft durch völlige Abwesenheit von Melodie und Harmonie, durch neue Rhythmen, neuen Satzbau, unerhörte Klangeffekte, sollte das Neuland der Musik gewonnen werden. Allerlei Versuche mit neuen Skalen, mit japanischen und chinesischen oder auch den alten griechischen Tonreihen wurden gemacht, auch die alten harmonischen Grundlagen entsprechend geändert. Um keinen Preis wollte man die alten Bahnen weiter gehen. Das Neue, das ganz Andere wurde da und dort in verblüffender Weise gewonnen; nur eines fehlte meistens dabei: die Überzeugungskraft, die jedes bedeutende Kunstwerk besitzen muss, um die Herzen der Hörer zu packen, zu fesseln. Die Reflexion, die bewusste Absicht, mit allem Aufwand von Kunst und Raffinement das Neue zu schaffen, trat immer wieder zu deutlich hervor. Wer sich heute fortschrittlich gesinnt zeigen möchte, befindet sich in einer prekären Lage. Noch vor 15 Jahren konnte man das Problem der modernen Musik Richard Strauss nennen; dann aber kamen, jeder aus einer andern Richtung: Reger, Debussy, Delius, Schönberg.
Rika Shishido, Die NMZ (1880–1928), Zusammenfassung (2004), S.282
Vor 50 Jahren
Opernhäuser in die Luft sprengen? Ich habe alles nicht ohne Humor gesagt, verteidigte Pierre Boulez bewusst überspitzte Formulierungen. Boulez geht der Frage einer wirklich neuen Form von Oper nach. Er sieht in der „Geschichte vom Soldaten“ Strawinskys, den entscheidenden, aber singulären Versuch, die herkömmliche Gestalt eines Opernwerkes zu revolutionieren, zu verändern. Aber Strawinsky habe dann seine dort gewählte Bahn wieder verlassen. Und wo ist eine wesentliche neue Form bekanntgeworden? Boulez will aufzeigen, dass eben keine Form-Idee wirklich neuer Art gefunden wurde. Und darin muss man ihm zustimmen, dass trotz „szenischem Oratorium“, „ballett chenté“ und ähnlichen Experimenten keine umfassend und tatsächlich bis dahin unbekannte Operndramaturgie Realität und zugleich Wirkungsradius gewann. Bergs „Wozzek“ ist für Boulez – und nicht nur für ihn – durch Struktur der Komposition ein Novum, wenn auch nur ein Anfang einer Entwicklung, die dann ausblieb. Boulez trachtet nach einem Musiktheater, das von den bekannten Formen des Gesangs, der Orchesterbegleitung, des Sprechens und Tanzes weit genug entfernt ist, um sich als neu etablieren zu können. Ihm schwebte ein Theater mehrerer Dimensionen in neuer Kombination vor, ein Gesamtkunstwerk also, das sich unkonventioneller Methoden bedient. Aber Gedanken an eine Handlung, an begleiteten Gesang oder Melodramatik sind ihm Greuel. Wenn er Opernhäuser in die Luft sprengen will, so ist das mit dem Hintergrund zu sehen, der ernstzunehmen wäre. Wirklich revolutionäre Ideen, die auf Grund der Werke junger Komponisten hätten geboren werden müssen, sind nicht verwirklicht. Erst in einem architektonisch anderen Gebäude wird es sinnvoll sein, neuartige Opern zu bieten. Scharoun-Jünger müssten ein neues Operntheater bauen.
Musikalische Jugend, XIV. Jahrg. 1967, H. 6 (Dez.), S. 3