Vor 100 Jahren: „Der deutsche ‚Don Giovanni‘“ +++ Vor 50 Jahren: Werner Burkhardt über eine von Friedrich Gulda initiierte Tagung zum Thema Improvisation | Ludwig Wismeyer über den plötzlichen Tod Josef Keilberths
Vor 100 Jahren
„Der deutsche ‚Don Giovanni‘“:
Vor etwa sechs Jahren hatte der deutsche Bühnenverein die Idee, die von den Zeitungen als eine gute bezeichnet wurde: er setzte einen nicht kleinen Preis für eine neue Uebersetzung des Da Ponteschen Textbuches zum „Don Juan“ aus, die Mozarts Musik weniger Zwang als die anderen auf den Bühnen umlaufenden Uebertragungen antäte, sich in einer sprachlich einwandfreieren Gestalt darböte und endlich dem Originale gerechter würde. (…) Weshalb der Deutsche Bühnen-Verein eigentlich das Preisausschreiben erlassen hat, ist nicht recht oder nur dann verständlich, wenn man an die menschliche Schwäche denkt, die es so gerne unternimmt, offene Türen einzurennen (…) Wir haben nämlich vor Jahren bereits eine vortreffliche deutsche Uebersetzung (…) erhalten [von Max Kalbeck] (…) Don Giovanni soll, wie auch schon früher vorgeschlagen wurde, das erhabene Werk in Zukunft heißen, also die Bezeichnung tragen, die einzig und allein künstlerisch gerechtfertigt ist. Die schärfsten Herren von der Reinigungsabteilung für deutsche Sprache, Art und Kunst werden vielleicht vorschlagen: „Herr Johann“; aber das geht ebensowenig wie das spanische „Don Juan“, dessen Aussprache überdies bei uns mehr widerwärtig und lächerlich falsch als gut zu sein pflegt. (…)
Möge Kalbecks fleißige und sorgfältige Arbeit bei den deutschen Bühnenvorständen die Beachtung finden, die sie um ihrer selbst, vor allem aber um Mozarts ewiger Musik willen verdient.
Prof. Dr. Willibald Nagel, Neue Musik-Zeitung 39. Jg., Nr. 19, 4. Juli 1918
Vor 50 Jahren
Werner Burkhardt über eine von Friedrich Gulda initiierte Tagung zum Thema Improvisation:
So blieben viel Fragen offen. Kann sich Gulda um eine Beschäftigung mit der avancierten modernen Musik herumdrücken, indem er die jugendliche Frische des Jazz als das Allheilmittel ins Treffen führt? Zumal sein musikalischer Vokalbelschatz auf dem Jazzsektor zwar durch Technik imponiert, aber schon ein wenig altbacken geworden ist? Und einige der wichtigsten Fragen, auf die Joachim Kaiser in der Diskussion dann hinwies, blieben nahezu unbeantwortet. Wie weit nähert sich eine genau überlegte Improvisation bereits der Komposition? Ist wirklich jeder, der ohne Noten spielt, ein Improvisator? Bestimmt sich der Rang einer Improvisation nicht auch durch die Form? Und kann schließlich in Sternstunden des Musizierens im befruchtenden Kontakt mit einem guten Publikum die werktreue Interpretation die Spontaneität des Improvisierten zurückgewinnen?
Ludwig Wismeyer über den plötzlichen Tod Joseph Keilberths:
Am 20. Juni 1968 stürzt Generalmusikdirektor Joseph Keilberth vom Dirigentenpodium: es ist mitten im II. Akt von „Tristan und Isolde“. Wenige Stunden darauf ist Joseph Keilberth tot. Das große Liebesduett hatte er noch fast zu Ende dirigiert, bis Tristan singt: „…Laß mich sterben…“ (…)
Man hat ihn zwar den Musiker mit dem Beethoven-Schädel genannt, muß aber dazu sagen, daß Keilberths Temperament stets gezügelt war, daß bei ihm musikalische Leidenschaft ohne geistige Disziplin undenkbar gewesen ist. (…). Das machte aber auch seine Position am Pult gegenüber Orchester und Bühne zu einer festen Mitte der künstlerischen Arbeit. Seine in sich geschlossene künstlerische Persönlichkeit bestimmte den Zusammenhang mit Partitur und Bühne. Verantwortung hieß seine erste Aufgabe – Verantwortung dem Werk gegenüber ebenso wie dem Haus, dem Orchestermusiker und dem Sänger.
Musikalische Jugend, XVII. Jg., Nr. 3, August/September 1968