Vor 100 Jahren: Musikbriefe. Hamburg +++ Vor 50 Jahren: Musikstudent und Gesellschaft
Vor 100 Jahren
Musikbriefe. Hamburg
Groß war die Fülle des Gebotenen im letzten Musikwinter, doch ist uns wohl selten in dem Maße wie diesmal der unerfreuliche Anblick leerer Konzertsäle erspart geblieben. […]
Hauseeger hat in übergroßer Bescheidenheit erst zwanzig Jahre verstreichen lassen, bis er uns endlich mit seiner dionysischen Fantasie bekannt machte, die unter den Vorzügen großer melodischer Ausdruckskraft in eine leuchtende Höhenwelt emporführt. Nicht so unbedingt folgt man den düster getragenen Totengesängen für Männerchor, die nebenbei keine ganz einwandfreie Wiedergabe fanden. […]
Unter den Neuheiten fesselten namentlich Szells Variationen in ihrer prägnanten Ausmünzung eines freundlich anmutenden Gedankens, während Boehes Symphonischer Epilog wie Ritters Trauermusik ziemlich eindruckslos vorüberrauschten;[…] Da war vor allem Weingartners neue Symphonie, namentlich in den beiden Mittelsätzen wirklich köstlich und in ihrer immer feinsinnigen Instrumentation ein schönes Gegenstück zu der instrumentalen und harmonischen Effekthascherei der Neutöner. Auch Friedrich Koch mit seiner Bülow gewidmeten Symphonie in G dur hält es mehr mit der alten Schule, bleibt aber in der Sprache zu einförmig […]
Bertha Witt, Neue Musik-Zeitung, 39. Jg., Nr. 22, 22. August 1918
Vor 50 Jahren:
Musikstudent und Gesellschaft
Die große Unruhe, die heute durch die studentische Jugend geht, hat längst auch in den Musikhochschulen Eingang gefunden. […] Mit besonderer Stoßkraft gehen die aktiven Musikstudenten gegen autoritatives Denken innerhalb und außerhalb ihrer Institute vor. Das demokratische Prinzip ist der cantus firmus, dem allein sie kontrapunktieren wollen. Das ist gut so. Aber man muß schon hier in einem kleinen Teilbereich der Gesellschaft immer wieder darauf verweisen, daß mit solchem Denken jegliche Intoleranz unvereinbar ist. […]
Ist es aber so schwer sich vorzustellen, daß im Zusammenhang mit der studentischen Unruhe in uns Lehrern vieles zu lebendiger Erinnerung erwacht, was wir in jungen Jahren Gutes erstrebt und was wir dabei falsch gemacht haben? Den Aktivisten von 1968 wird es in dreißig Jahren wieder so gehen. […]
Das Heil kommt nicht heute, es kommt auch nicht, wenn man es nur durch Reformen an der Bildungsspitze zu erreichen trachtet. Im Leben der bundesdeutschen Gesellschaft hat die Musik immer noch einen so wesentlichen Rang, daß jährlich viele Menschen aus aller Welt kommen, um lernend und genießend davon Nutzen zu haben. Es ist aber abzusehen, daß durch die sträfliche Vernachlässigung einer geplanten Musikerziehung in allen Stufen durch Staat, Länder und Gemeinden im nächsten Halbjahrhundert ein Tiefgang und unterster Stand des deutschen Musikwesens unvermeidlich ist. […]
Hier ist die eigentliche Aufgabe der bewußt wirkenden Studentenschaft: helft mit an einer klaren, durchführbaren Planung im deutschen Musikerziehungssystem vom Kindergarten an!
Karl Michael Komma, Musikalische Jugend XVII. Jg., Nr. 5, Oktober/November 1968