Vor 100 Jahren: Ein verschollener Volksliedsammler +++ Vor 50 Jahren: „Votre Faust“ in Mailand
Vor 100 Jahren
Ein verschollener Volksliedsammler
Wie der Rabe von der Krähe, so ist das Volkslied vom Gassenhauer verdrängt worden. Schmeichelnde Walzerlieder, süßlich-sentimentale Operettenarien bemächtigen sich mit unabweislicher Aufdringlichkeit im Fluge des Volkes, um bald wieder spurlos zu entschwinden und von andern ersetzt zu werden. […] Zahlreich sind die Bemühungen, der in unserer Entwicklung liegenden Verflachung entgegenzuarbeiten und dem deutschen Volke das Altgold seiner Poesie wieder zugänglich zu machen. Wie wenig Erfolg würde dieses Bestreben zeitigen, wenn nicht schon vor mehr als hundert Jahren unter günstigeren Verhältnissen begonnen worden wäre, eines unserer schönsten Erbgüter vor den Fluten einer neuen Zeit unter Dach und Fach zu bringen. […]
Wenn man die beiden Bände des vor mehreren Jahren auf Veranlassung des Kaisers herausgegebenen „Volksliederbuchs für Männerchor“ durchblättert, findet man eine nicht geringe Anzahl von Volksliedern, die sich auf Anton Wilhelm v. Zuccalmaglio zurückführen. […] Wenn man die historisch-kritischen Noten zu den von Zuccalmaglio gesammelten Liedern durchsieht, so findet man recht oft den Vermerk: es handele sich um kein echtes Volkslied, sondern um ein von Zuccalmaglio gedichtetes oder doch stark bearbeitetes, wohl auch komponiertes Lied. […]
Zuccalmaglio lehnt also die Autorschaft seiner Volkslieder […] ab. Er gesteht aber zu, textlich manchmal nachgeholfen zu haben, um die Weise zu retten. […]
In der Bewahrung der Volksweisen liegt sicher Zuccalmaglios Hauptverdienst. Denn daran hatte man es vielfach fehlen lassen, obwohl doch beim Volkslied Text und Weise innig zusammengehören. […] Wenn er bei der Bewahrung des Wortes hin und wieder mehr oder minder starke Konjekturen gegeben hat, so tat er das nicht aus Leichtfertigkeit oder gar aus andern Motiven. Er sah sich dazu im Falle der Not gezwungen, um die Weise zu erhalten, die im Volksliede als Seele das körperliche Wort belebt und ohne dieses seines Haltes entbehrt.
Dr. A. H. Braun, Neue Musik-Zeitung, 40. Jg., 1919, Heft 1
Vor 50 Jahren
„Votre Faust“ in Mailand
Utopien werden immer besser, je länger man auf sie wartet, sagt Leni Peickert in Alexander Kluges Film „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“. So erlangte Henri Pousseurs Kammeroper „Votre Faust“ längst Berühmtheit, obwohl – oder gerade weil – sie noch nirgendwo aufgeführt worden war. Ihre mutmaßliche Unaufführbarkeit leuchtete ihr dergestalt voran, daß es einer leibhaftigen Wiedergabe, wie sie jetzt endlich doch an der Piccola Scala in Mailand geschah, schwer wurde, sich neben dem Erwarteten, Gewünschten, Vorgestellten, zu behaupten. […]
Die Tatsache, daß Generalprobe und Uraufführung nahezu identisch […], daß nur einzelne Szenen hinsichtlich ihrer Dauer variabel (das heißt, durch spontanen Publikumsentscheid zu stoppen) waren, beweist zur Genüge, wie wenig die dramaturgischen Intentionen des Werkes genutzt wurden. […]Die „Votre Faust“-Musik ist wohl die konsequenteste Collage, die es bislang gibt. Vom Tonfall mittelalterlicher Vokalkunst über die gängigen Muster der klassisch-romantischen Periode bis zu Webern und den Seriellen wird Stil um Stil imitiert und durcheinandergeschüttelt. All das […] hat mit üblicher Opernparodie allerdings nicht das mindeste zu tun. Es ist Teil eines Verfahrens, das das Zitat zum strukturellen Prinzip erhebt. So ist fast interessanter als das jähe Aufblitzen der „alten Bekannten“, die Technik, mit der […] von einem Stil in den anderen „moduliert“ wird, wie früher von einer Tonart in die andere, etwa, wenn Pousseur Intervallspiele à la Webern sich allmählich zu klassisch-tonalen Satzgebilden von Mozartschem Gepräge verdichten läßt: Musik in der Rotationstrommel, deren Tempo der Komponist bestimmt. […]
Hans-Klaus Jungheinrich, Neue Musikzeitung, XVIII. Jg., 1969, Nr. 1