Vor 100 Jahren: Der moderne Dirigent +++ Vor 50 Jahren: Die Lust der Lustlosen
Vor 100 Jahren: Der moderne Dirigent
„Die vielfach belachte Kunde aus dem heiligen Köln, dort die Stellung eines Generalissimus unter den Kapellmeistern zu schaffen, entsprang durchaus nicht lokalpatriotischem Größenwahn. Sie ist ein Dokument der zeitgeschichtlichen Entwicklung des modernen Dirigenten, ein allerdings brutaler Beweis seiner dominierenden Bedeutung, aber doch ein wohlbedachtes Symbol, dem man nur das Bild des in Perücke und Rockkrause musizierenden Bediensteten aus dem 18. Jahrhundert entgegenzuhalten braucht, um den unergründlich tiefen Unterschied von Einst und Jetzt in seiner ganzen Trivialität zu erfassen. […]
An sich ist die Erfindung des Dirigenten überhaupt schon eine geniale Leistung des Menschenhirns. Interessant wird aber dessen Geschichte erst, als er grundsätzlich sich nicht mehr der Wirklichkeit viel zu sehr entfremdet fühlt und selber die Führung des Orchesters übernimmt. Das ist der Augenblick, wo er nach einer möglichst großen Vervollkommnung der ihm angeborenen geistigen Gaben zu streben beginnt, wo er in triumphierendem Egoismus einer ungehemmten Entfaltung des eigenen Ichs zustrebt und sich zur Herrscherkaste zählt. Diese Emanzipation, zum Teil die Folge einer notgedrungenen Selbstbehauptung, vollzieht sich sprunghaft. Sobald Publikum und Tagespresse tendenziös einmal seine Entwicklung ausspielen, sobald der Ruhm eines Orchesterleiters nicht immer nach vorwiegend künstlerischen Gesichtspunkten, sondern auch als rein geschäftliche Spekulation gewertet wird, hört von selbst das kümmerliche Dasein auf, das einem Verzicht auf künstlerische Selbstpflege gleichkam und unrentabel war. […]
Bei seinen willkürlichen Wünschen und Absichten hat sich ein ernster Uebelstand herausgebildet: der zunehmende Brauch dilettantenhafter Liebhaberei am Dirigentenpult, wobei die intimen alten Beziehungen zu Musik und Musikern ganz fehlen und dafür individuelle Neigungen und Schwächen umso schädlicher wirken. […]“
Hans Schorn, Neue Musik-Zeitung, 40. Jg., 1919, Heft 10
Vor 50 Jahren: Die Lust der Lustlosen
Ein Phantom geistert durch theatralische und publizistische Lustbarkeiten: Die sexuelle Befreiung, ja sogar, reklamiert beispielsweise von Arthur Maria Rabenalt für sein vor Harmlosigkeit schon albernes „Theatron eroticon“, die „sexuelle Revolution“ (was immer das sein mag). Die Phantasmagorie gelebten Eros, an der das Theater, professionell Trugbilder produzierend, sich neuerdings beteiligt, gaukelt arglistig Fortschritt vor – einem imaginären Paradies entgegen; ja sie gefällt sich darin, als Vorbotin gesellschaftlicher Befreiung zu gelten. Nichts ist stärker Trug als das, denn erst die doppelzüngige, weithin auf sexuelle Frustration sich gründende Moral der Gesellschaft stellt die Weichen für die kommerziell erfolgreichen Ersatz-Befriedigungen. […]
Denn das schmatzende Bürgertum, das im „Theatron eroticon“ – wo es geschäftlich eher schaden könnte – „Gesinnung“ vortäuscht, und die alt-neue Linke auf dem Theater sind Brüder im Geiste, Anwälte der Triebunterdrückung beide, mag sich das auf Seiten der „Revolutionäre“ auch manchmal hinter sektiererischen, durchaus nicht funktionsfähigen Gemeinschaften verbergen. […]
Für eine neue Körperbewußtheit wird nachdrücklich plädiert, nicht mißverstanden als artistisch-pantomimischer Aufputz, ebensowenig als exzessive Privatveranstaltung. Dazu, zum wirkungslos Abseitigen, müssen Beispiele erotisierten Musiktheaters gerechnet werden, die sich im bloßen Interessantsein erschöpfen: Silvano Bussottis für seinen Organistenfreund Karl-Erik Welin und die Stimmartistin Cathy Berberian geschriebene „Passion selon Sade“ beispielsweise, Futter für Avantgarde-Zirkel von Palermo bis Stockholm. […]
Claus-Henning Bachmann, Neue Musikzeitung XVIII. Jg., 1969, Nr. 2 (April/Mai)