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Neue Musikzeitung vor 100 Jahren.
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Rückblende 2019/06 (Vor 100 und vor 50 Jahren)

Untertitel
Reform des Konzertwesens | Kritische Theorie – und dann?
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Vor 100 Jahren: Zur Reform des Konzertwesens +++ Vor 50 Jahren: Kritische Theorie – und dann?

Vor 100 Jahren

Zur Reform des Konzertwesens

„[…] Wer den quirlenden, wirbelnden Strom eines Konzertwinters an sich vorbeirauschen läßt, der gewahrt darin nur zu bald die ganze Schar der Unberufenen, die zu schwach zwar, dauernd obenauf zu schwimmen, ihn doch zu unerträglicher Höhe anschwellen lassen. Unterstützt von den Agenten leisten sie Hervorragendes nur auf dem Gebiete der Reklame und graben damit manchen ehrlich Ringenden, die nicht ebenso zahlungsfähig sind, das Wasser ab. Hier stände man vor der Frage: wie ist ein Eindämmen der Flut möglich; oder deutlicher: wer hat das Recht, zu öffentlichem Konzertieren? […]

Mir scheint diese Frage vom Standpunkt des Ausübenden, des „Lieferanten“ aus nicht zu beantworten. Die Entscheidung kann nur liegen beim „Abnehmer“, d. h. beim Publikum und bei der ständig vorhandenen Kontroll­instanz, dem Fachkritiker. Es wird noch lange währen, bis die Masse der Hörer bei der Wahl ihrer musikalischen Genüsse eigene Urteilskraft und eigenen kritischen Geschmack wie etwa bei der Wahl ihrer Schmuckstücke und Kleider entwickelt. […]

Das Hauptgewicht wird beim Berufskritiker bleiben. […] Die Eignung zum Kritiker wäre von gewissen Vorbedingungen abhängig zu machen, da es nicht angeht […], daß jeder verkrachte Konservatorist, jeder beliebige klavierspielende Schulmeister sich als Kritikus produziert. Vor allem aber wäre es notwendig, daß der Fachkritiker eine seiner Bildung und Leistung würdige Bezahlung erhielte. […]

Gegen einen anderen Uebelstand kämpft die Kritik schon geraume Zeit: gegen das einseitige, starre, sich ewig gleichbleibende Programm. Nur ein kleiner Erfolg ist hier bereits erzielt worden; einige wenige, namentlich jüngere Dirigenten und Instrumentalisten bringen in reicher Abwechslung Neues, vor allem Neuzeitliches, heute Erschaffenes. Aber die Mehrzahl, unter ihr die „Größen“, trabt im ausgefahrenen Ge­leis weiter. […]“

Hugo Holle, Neue Musik-Zeitung, 40. Jg., 1919, Heft 11

Vor 50 Jahren

Kritische Theorie – und dann?

„Musik und Sozialwissenschaften sind dabei, einander zu entdecken. Offenbar vergrößert sich in letzter Zeit der Kreis derer unter den Musikern und Musikpädagogen, Psychologen und Soziologen, die beie Bereiche inhaltlich und methodisch soweit zu überblicken vermögen oder beiderseitig engagiert sind, um in kritischen Denkansätzen beide miteinander zu konfrontieren […]

Implizit oder explizit münden sämtliche diesbezüglichen Beiträge in die Frage nach der Funktion der Musik – oder der Kunst allgemein – in der Gesellschaft von heute und morgen. Alle Überlegungen zur Didaktik des Musik­unterrichts, zur Kommerzialisierung der Kunst, zur Revolutionierung des Konzertbetriebes, zur Wertorientierung des Komponisten müssen auf den Grund dieser Frage vorstoßen, denn sonst erschöpfen sich „Reformen“ im oberflächlichen Manipulieren, im Herumdoktern an Symptomen.

[…] Hamm/Bodenhöfer wollen die Kunst aus der Alibifunktion für die Herrschenden befreien und laufen zugleich Gefahr, sie wiederum zu vergewaltigen und zu verabsolutieren, indem sie den Kunstbetrieb ausschließlich in den Dienst gesellschaftlicher Emanzipation zwingen. Theo Geißler hat zutreffend davor gewarnt: „Die Kunst fällt von der kommerziellen Abhängigkeit in eine ideologische, der plakatierte Dogmengehalt bestimmt dann ihre Verbreitung, ihre Wertung.“

So sei hier ausdrücklich für das neuerdings so geschmähte liberale Prinzip der Pluralität plädiert, für eine Überwindung der Einseitigkeit eines an der Tradition der „klassischen“ mitteleuropäischen Musik orientierten Wertesys­tems. […] Die innere Wahrhaftigkeit von Kompositionen zu empfinden, zugleich aber sich der Relativität ihrer Werte und Strukturen bewußt zu sein – das sind Zielvorstellungen, um das Publikum die Vielfalt künstlerischer Aussagen zu erschließen und es zugleich einem kommerziellen Konsumbetrieb gegenüber kritisch zu machen. Der Weg dahin führt […] über eine – freilich radikal reformierte und intensivierte – allgemeine Musikpädagogik.“

Michael Jenne, Neue Musikzeitung, XVIII. Jg., 1969, Nr. 3 (Juni/Juli)

 

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